Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
aber sie hatte ja schon nicht mit diesem miesen Kerl im Wald schlafen wollen. Sie tat es für den Wohnwagen, damit ihre Kinder nicht erfroren.
Kaum jemand hätte diesen Weg gewählt, doch man kann schnell jemanden verurteilen, wenn man sich selbst nicht mit einer heftigen Depression, dem Aufziehen eines behinderten und oft kranken Sohns und dreier Töchter, ohne Dach über dem Kopf, ohne Job, mit leerem Geldbeutel und der Angst vorm Erfrieren herumschlagen muss.
Sechs Monate nachdem wir zu Momma zurückgekommen waren (nach der Sache mit der blutdurchtränkten Matratze), ließ sich die Besitzerin des Modegeschäfts, in dem Momma arbeitete, von ihrem Mann scheiden, weil sie der Meinung war, sie hätte »ein Jahrzehnt zu lange« im selben Trott gelebt. Sie setzte sich nach Italien ab, wo sie bleiben wollte, »bis mir das Geld ausgeht«.
Momma hatte also wieder keinen Job. Henry hatte einen schlimmen Allergieschub, gefolgt von einer Lungenentzündung, weswegen er im Krankenhaus landete. Seine Magenschmerzen verschlimmerten sich bei Stress. Die Arztrechnungen häuften sich. Wir wohnten in einer Sozialwohnung und bekamen Lebensmittelmarken, aber es reichte hinten und vorne nicht. Tagsüber kellnerte Momma, abends legte sie eine weitere Schicht ein, doch durch Henrys Gesundheitsprobleme verlor sie den Job.
Sie verschwand wieder für zwei Wochen im Bett, und wir Mädchen backten ununterbrochen, verkauften Schokoladencremetorte, Kürbiskuchen und rosa Rüschentorte. Wir schrieben Notizen an den Rand von Dads Rezeptbuch. Das tröstete mich seltsamerweise ein wenig. Wenn ein Rezept noch verbessert werden konnte, sollte man das tun. Das hatte ich von ihm gelernt.
Am letzten Tag der zweiten Woche stand Momma auf, bürstete sich die Haare und schlüpfte in ein enges Kleid. Sie versuchte es unter ihrem fadenscheinigen Mantel zu verbergen, aber ich sah es.
Ich wusste, was Momma vorhatte.
Ich bat sie, es nicht zu tun.
Sie schloss mich fest in die Arme. Das war die Umarmung, an die ich mich erinnern kann.
Auf einen rosa Zettel schrieb sie, was wir zu Abend essen sollten und was wir im Haus zu erledigen hätten.
Ich sagte ihr, ich wolle keine Stripperin als Momma.
Sie gab mir eine Ohrfeige. Das ist die Ohrfeige, an die ich mich erinnern kann.
Liebe und Wut – diese beiden Gefühle prägten meine Beziehung zu Momma.
Die Ohrfeige war so heftig, dass mir die Zähne wehtaten.
Es kam wieder Geld herein. Je mehr hereinkam, desto mehr entglitt Momma emotional. Henry hatte weiterhin Gesundheitsprobleme: Bronchitis, Asthmaanfälle, merkwürdige Hautausschläge, Magenschmerzen. Cecilias Ausschläge flammten wieder auf; Janie hatte ihre Migräne.
Momma tanzte nachts und kümmerte sich tagsüber um Henry, wenn er nicht in der Sonderschule war, es sei denn, sie kam nicht aus dem Bett. Dann mussten Cecilia, Janie oder ich daheimbleiben und den Unterricht versäumen.
Eines Nachts wurde Momma auf der Arbeit ohnmächtig, direkt auf der Bühne, und per Krankenwagen abtransportiert. Sechs Tage lag sie wegen Erschöpfung und Lungenentzündung im Krankenhaus. Als sie entlassen wurde, schlugen ihre Kolleginnen vor, Henry in ein Kinderheim zu geben.
Zunächst weigerte sich Momma.
Aber ein paar Abende später wurde sie wieder ohnmächtig, sehr zum Verdruss ihres Chefs, eines fiesen Wiesels. Sie landete erneut im Krankenhaus. Da gab sie schließlich nach.
Zu dem Zeitpunkt war Momma wohl wirklich kurz davor, sich das Leben zu nehmen. Ich hatte sie irgendwann dabei erwischt, wie sie die Dose Rohrreiniger mit starrem Blick fixierte. Ein andermal lehnte sie sich ein bisschen zu weit aus dem Fenster unserer Wohnung im dritten Stock.
Ich zog sie zurück, bevor sie vornüberkippte, und drückte sie an mich. Eine Stunde lang lag sie stöhnend in meinen Armen, stieß tiefe, kehlige Laute aus, fertig mit dem Leben.
Wenn sie niedergeschlagen war, ausgelaugt von Depression und Gewissensbissen, klagte sie: »Ich habe mein Baby getötet. Ich habe es getötet. Glaubst du, dass es ein Junge war, Isabelle? Oder glaubst du, es war ein Mädchen? Ich habe gesagt, dass ich es nicht wissen will, aber jetzt will ich es wissen!« Sie rang nach Luft, als wäre zu wenig Sauerstoff im Zimmer. »Ich konnte kein weiteres Kind bekommen, ich konnte einfach nicht . Aber jetzt kann ich es nicht ertragen, mein Baby getötet zu haben. Ich habe es umgebracht. Ich habe mein Baby getötet.«
Ich hielt sie fest und wiegte sie, dann übernahm Cecilia, später Janie, die
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