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Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)

Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)

Titel: Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cathy Lamb
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Momma ging. Sie war ganz grau um die Nase, die Augen geschwollen und das Gesicht von Kummer zerfurcht, als hätten die Tränenspuren Gräben durch ihr Gesicht gezogen.
    »Ich bleibe bei meinem Sohn«, protestierte sie zum dritten Mal, aber ihr Protest wurde schwächer.
    »River«, sagte Dad mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Du kommst mit mir. Wir gehen jetzt.« Er legte ihr die Wolljacke um die Schultern und zog Momma hoch. Sie beugte sich zu Henry hinab, der eingeschlafen war.
    Dann drehte sie sich um und nahm mich in die Arme. »Bleib bei deinem Bruder, Isabelle.«
    Die Umarmung überraschte mich, aber ich erwiderte sie. Umarmungen von Momma waren eine Seltenheit und kamen nur in großen Abständen vor, und obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, sie nicht zu ersehnen, rührte sie mich zu Tränen.
    Sie umarmte Janie, küsste Henry erneut auf die Lippen und ging mit unsicheren Schritten hinaus.
    Cecilia war schon früher zu ihren Töchtern gefahren, und Janie und ich machten uns für die Nacht fertig. Die Schwestern hatten uns zwei bequeme Sessel gebracht. Janie und ich hielten uns über die Armlehnen hinweg an der Hand. Innerhalb von Minuten waren wir eingeschlafen.
    Ein kummervoller Schlaf.

    Gegen drei Uhr morgens wachte ich davon auf, dass Henry das Lied »Jesus liebt mich« sang.
    Eine Weile hörte ich zu, das Zimmer war nur von den winzigen Lichtern an den verschiedenen Apparaten beleuchtet, der Schlauch an seinem Tropf wirkte etwas unheimlich in der Dunkelheit. Das Lied quälte mich, jedes Wort zeugte von Einsamkeit, kam aus weiter Ferne. Er traf alle Töne ganz genau.
    »Du hast eine schöne Stimme, Henry«, sagte ich, als er die dritte Strophe beendet hatte. Mir wird deine Stimme fehlen.
    »Isabelle?«
    »Ja. Ich bin’s.« Ich bin’s, Henry. Ich bin für dich da.
    »Bist du immer noch hier? Janie auch?«
    »Klar, Henry. Wir gehen nicht.« Ich würde dich nie verlassen.
    »Ich hab geträumt und bin aufgewacht, weil Jesus mir gesagt hat, ich soll das Lied singen. Deshalb hab ich es gemacht. Ich hab das Lied gesungen.«
    Ich setzte mich auf den Bettrand. Er breitete die Arme aus, und ich umarmte ihn, legte mich zu ihm auf das Bett. Wir hielten uns an der Hand. Es würde mir fehlen, Henrys Hand zu halten.
    »Schlaf wieder ein, Henry, es ist schon spät.« Ich küsste ihn auf die Wange.
    »Ich weiß. Ich seh die Sterne leuchten. Ich seh die Mondstrahlen. Weißt du, wie man in den Himmel kommt, Isi? Du musst auf ein Sonnenstrahl oder ein Mondstrahl klettern. Damit geht’s nach oben.«
    »Das werde ich mir merken, Henry, ganz bestimmt.« Und ich werde dich nicht vergessen, Henry.
    Sein Gesicht wurde ernst. Er flüsterte: »Ich muss dir was erzählen, Isabelle.«
    »Na gut, Henry. Erzähl mir was.«
    Er flüsterte: »Ich bin krank. Die Ärztin hat’s mir gesagt. Ich bin schlimm krank.«
    »Das tut mir leid. Es tut mir leid, dass du krank bist.« Ein Schluchzen blieb in meiner Kehle stecken. Ich wünschte, ich wäre es.
    »Weiß ich doch, dumme Isabelle. Ich weiß, dass es dir leidtut. Keiner will, dass Henry krank ist.«
    Ich tätschelte seine Hand und glaubte, der Schmerz in meiner Brust würde mich umbringen.
    »Ich hab Bauch-spei-übel-krebs. Muss man so sagen. Weil’s übel ist.«
    »Ja, es ist zum Speien übel.«
    »Isabelle« – er richtete sich auf, um in mein Ohr zu flüstern – »das wird nicht besser. Ich bin krank.«
    Meine Hand erstarrte. Niemand hatte Henry erzählt, dass sich die Krankheit nicht bessern würde.
    »Warum sagst du das, Henry?« Der Schmerz in meiner Brust verschlimmerte sich, breitete sich aus wie die Schwingen eines Adlers.
    »Weil Jesus in dem Traum gesagt hat, ich komm bald zu ihm.« Er lächelte.
    Ich konnte mich kaum rühren. »Jesus hat dir das erzählt?«
    Henry biss sich auf die Lippe, grinste breit. »Jawoll. Ich geh bald in den Himmel. Ich werd Marles wiedersehen.«
    Marles war eine Katze, die wir gehabt hatten, als wir klein waren. Sie hatte goldenes Fell und war von einem Lastwagen überfahren worden.
    »Ja, genau. Jesus lächelt mich an. Er sagt, ich hab’s gut gemacht. Er sagt, ich komm in den Himmel.«
    Was macht man, wenn jemand stirbt oder vom Sterben spricht? Streitet man es ab? Weist man es von sich und verweigert ein ehrliches Gespräch, das der Sterbende braucht? Hofft man laut auf ein Wunder, wenn keines geschehen wird? Henry war geistig behindert, aber er war nicht dumm. Tränen schlichen sich aus meinen Augen, und ich schniefte und

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