Rosarote Nachrichten: Roman (German Edition)
Dr. Remmer.
»Was?«, fauchte Momma. »Da gibt es nichts zu besprechen. Behandeln Sie den Krebs! Werden Sie ihn los! Menschen überleben dauernd Krebserkrankungen. Ich kenne zwei Frauen in Trillium River, die vor über zwanzig Jahren Krebs hatten, und sie leben immer noch. Machen Sie eine Chemotherapie mit ihm. Wir bringen ihn her. Sie können auch eine Strahlenbehandlung machen. Oder ihn operieren. Können Sie den Krebs nicht herausschneiden?« Sie hob die Brauen, sah die Ärztin an. »Das werden Sie doch wohl können, oder?« Ich kannte Momma, und ich wusste, was sie gerade versuchte. Einschüchterung durch Herablassung.
Die Ärztin ließ sich jedoch nicht einschüchtern, denn sie war es gewohnt, mit Menschen umzugehen, die völlig außer sich waren. Momma konnte sie nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen.
»Leider ist dies von allen Krebsarten diejenige, die man am wenigsten haben möchte.« Die Ärztin hielt inne. »Bauchspeicheldrüsenkrebs wird nur selten früh genug erkannt, um etwas dagegen unternehmen zu können. Er zeigt keine Symptome, bis es zu spät ist.«
»Es ist nicht zu spät, ihn zu behandeln«, beharrte Momma. Ihre Stimme brach, und sie beugte sich vor. »Alle haben Henry immer aufgeben wollen. Immer. Seine Lehrer. Seine Schule. Die Ärzte. Geben Sie meinen Jungen nicht auf! Geben Sie meinen Jungen nicht auf! «
»Mrs Bommarito«, sagte die Ärztin, »ich würde niemals einen Patienten aufgeben, und schon gar nicht Henry.«
»Jetzt tun Sie es aber«, warf Momma ihr vor, Tränen in den Augen. »Jetzt tun Sie es. Ich merke es doch.«
Die Ärztin hielt Momma die Hand hin.
Ich dachte, Momma würde sie glatt wegschlagen, doch das tat sie nicht. Sie griff nach dieser Hand wie nach einer Rettungsleine.
»Mrs Bommarito.« Dr. Remmer nahm Mommas Hand in ihre beiden, von Frau zu Frau. Sie atmete tief durch. »Wir haben mehrere Scans gemacht und Untersuchungen vorgenommen. Henrys Krebs hat bereits zu viele Metastasen gebildet. Wir können nicht operieren. Es hat keinen Zweck. Der … der Krebs sitzt überall … Es tut mir entsetzlich leid. Ich habe keine Wunderheilung dafür.«
»Wunder? Wunder?« Mommas Stimme wurde schriller. »Ich brauche kein Wunder. Ich will nur, dass Sie Ihren Job tun und meinen Sohn gesund machen.«
Die Ärztin nahm es ihr nicht übel.
Wie denn auch? Ihr saß eine Mutter gegenüber, die ihre Hand umklammert hielt. Tränen tropften ihr vom Kinn auf den Tisch.
»Was erzählen Sie mir da? Es gibt keine Heilung, es gibt nichts, was Sie tun können?«
Cecilia schlug die Hände vor den Mund.
Janie wimmerte und schwankte, und ich legte den Arm um ihre schmale Taille.
Dad legte beide Hände auf Mommas Schultern.
»Da Henrys Krebs so weit fortgeschritten ist, gebe ich ihm höchstens noch ein paar Monate, selbst wenn wir es mit Chemotherapie versuchen, Mrs Bommarito.«
Ich konnte nicht schlucken, konnte mich nicht rühren. Eisige Verzweiflung breitete sich in meinem Körper aus, nahm mir die Luft, schnitt meine Blutzufuhr ab, brachte mich schier um.
»Ein paar Monate? Ein paar Monate? Was soll das heißen? Was – soll – das – heißen?« Jedes Wort wurde schriller, bis sie nicht mehr konnte. Momma war fertig. Sie hatte sich so lange beherrscht, wie es ging.
»Das soll heißen …« Dr. Remmer wappnete sich. »Das soll heißen, dass Henry meiner Ansicht nach nur noch ein paar Monate zu leben hat.«
Es folgte eine bange Pause, in der niemand atmete und der grauenhafte Satz über uns hing wie ein riesiges Schwert. Das war’s dann. Momma flippte aus.
Sie drehte durch.
Sie stand auf und schrie: »Nein! Neiiiin! Herrgott, nein! O Gott, nein! « Ihr Schrei hallte durch die Flure des Krankenhauses, urzeitlich, rau, grauenerregend. »O Gott, nein!«
Sie hörte nicht mehr auf.
Janie und ich blieben die ganze Nacht bei Henry. Wir schliefen nicht. Die Sonne ging unter, leuchtende Farben breiteten sich über den Himmel aus, das Licht verschwand, der Mond ging auf, der Mond ging unter, die Sonne kam zurück, leuchtende Farben breiteten sich über den Himmel aus, und wir fühlten uns scheiße.
Cecilia war nach Hause gegangen zu ihren Töchtern. Dad hatte Mom mit heimgenommen. Sie stand ganz kurz vor einem Nervenzusammenbruch.
Am nächsten Morgen versammelten wir uns alle wieder in Henrys Zimmer, der Schock hatte nachgelassen, unsere neue Realität war glasklar und schwindelerregend.
»Ich geh heut heim«, verkündete Henry, während er sein Apfelkompott aß. Er
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