Rosas Vermaechtnis
Schreibtischlicht löschte, aufstand und ins Bad ging. Ja, ihr Gefühl sagte ihr, dass Balduin Hafner ein sympathischer Mann gewesen sein musste. Während Alexandra fuhr und auf die Straße vor sich starrte, ohne sie wirklich wahrzunehmen, durchlief sie ein Ruck, der sie augenblicklich in die Wirklichkeit zurückbrachte.
Nein, sie durfte das nicht wieder zulassen. Balduin Hafner war vielleicht ein sympathischer Mann gewesen , aber jetzt war er tot.
Der wahre Grund, warum Alexandra ihren alten Beruf an den Nagel gehängt hatte, hatte nicht nur etwas mit der Erfüllung eines großen Traumes zu tun, sondern vor allem mit ihrer Eigenschaft, sich in die Menschen einzufühlen, die tot vor ihr auf dem Seziertisch lagen. Für Alexandra waren die Leichen nicht irgendwelche Gegenstände, obwohl diese Betrachtung ihr den Umgang mit ihnen erleichtert hätte, sondern blieben Menschen, die eine bestimmte Identität und ein Schicksal besaßen, mit Vorlieben und Abneigungen, bestimmten Charaktereigenschaften und Bildungsniveaus. Niemals wären ihr despektierliche Bezeichnungen wie: »Da vorn liegt der Lungendurchschuss« über die Lippen gekommen, wie es teilweise sogar die Ärzte im Krankenhaus praktizierten, die mit lebenden Patienten umgingen. Eben diesen Respekt, der für Alexandra unabdingbar gewesen war, schätzte sie auch an ihrem Nachfolger, Dr. Krüger, der eine ähnliche Einstellung dazu besaß.
Bei Alexandra kam jedoch noch eine andere Eigenschaft oder besser gesagt Fähigkeit hinzu, die über das normale Maß des Einfühlungsvermögens hinausging. Jedes Mal, wenn sie einem Toten gegenübertrat, konnte sie sich ein genaues Bild darüber machen, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Gleichgültig, wie verunstaltet die Körper aussehen mochten, vor Alexandras geistigem Auge verselbstständigten sich Bilder und verdichteten sich schließlich zu Filmsequenzen, die bestimmte persönliche Situationen im Leben der Toten, ob Täter oder Opfer, wiedergaben. Alexandra, die auch als Kind schon über eine blühende Fantasie verfügt hatte, hatte diese Absonderlichkeit, wie sie es bei sich selbst nannte, lange als Unsinn abgetan, bis sie durch den Stand der jeweiligen Ermittlungen eines Besseren belehrt wurde. In einer Persönlichkeit geirrt hatte sie sich so gut wie nie, was ihr selbst unheimlich erschien. Dass die Toten ihr, jenseits aller fortschrittlichen Untersuchungsmethoden, praktisch von ihrem ganz persönlichen Leben berichteten, war zu einer kräftezehrenden Last geworden, die sie nicht länger tragen und ertragen wollte. Dass sie damit ein großes Potenzial im Hinblick auf den Ermittlungsfortschritt verschenkte, verdrängte sie einigermaßen erfolgreich, weil sie wusste, dass ihr spezielles Einfühlungsvermögen ihre Kräfte oft überstieg. Bisher war es ja auch ohne das meist gut gegangen, bis auf einige Fälle, in denen sie den Kollegen einen entscheidenden Tipp geben konnte, den sie mit dem Ergebnis eines persönlichen Brainstormings verschleierte.
Marie und Alexandras Mutter Renate waren die Einzigen, die von dieser Eigenart wussten. Renate war mit diesem Phänomen groß geworden, ohne selbst davon betroffen gewesen zu sein, aber ihre Mutter, Alexandras Großmutter, war für ihr besonderes Gespür bekannt gewesen und schien wenigstens einen Teil dieser Fähigkeiten auf ihre Enkeltochter übertragen zu haben.
Ob es wirklich nur ein Teil war oder ob die Begabung umfassender war, wollte Alexandra gar nicht wissen. Sie fühlte sich ohnehin manchmal wie eine Außenseiterin, weil sich ihr Umstände und Situationen oftmals anders erschlossen als ihren Mitmenschen. Bis zum Eintritt ins Studium war ihr dieses besondere Gespür, das ihr später so sehr zu schaffen machte, verborgen gewesen. Als sie im Rahmen der Klinischen Semester allerdings mit ihrer ersten Leiche konfrontiert wurde, die es zu sezieren galt, änderte sich das schlagartig. Sie sah den Obdachlosen, der seinen Körper der Wissenschaft vermacht hatte, in seinem Umfeld, wusste, wo er schlief, wie viel Schnaps er trank und wie hoffnungslos er sich fühlte. Zuerst hatte sie das als übersteigertes Hirngespinst abgetan, aber als sie bei der nächsten Leiche ganz andere erlebte Szenen vor sich sah, gab ihr das zu denken.
Am Anfang ihrer Berufstätigkeit war es Alexandra zuerst gelungen, sich ganz pragmatisch mit dieser Eigenart zu arrangieren. Was blieb ihr auch anderes übrig? Dass die ganze Angelegenheit jedoch äußerst kräftezehrend war, stellte sich nach einigen
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