Rosas Vermaechtnis
Bonner Südstadt und überlegte, wo sie klingeln sollte. Hafner hatte in der zweiten Etage gewohnt, und da es von der Anordnung der Klingelknöpfe so aussah, als lägen je zwei Wohnungen auf einer Etage, drückte sie auf den Knopf, der sich unmittelbar neben dem Schild mit dem Namen Hafner befand.
»Ja bitte?«, tönte eine weibliche Stimme aus der Sprechanlage.
Alexandra beugte sich zum Lautsprecher vor.
»Guten Tag Frau Schröder, bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich heiße Alexandra Lindner, Ihr Nachbar, Balduin Hafner war mein Bruder.«
»Bitte kommen Sie doch herein«, antwortete die Stimme, dann ertönte der Summton, der die Tür öffnete.
»Das ging ja leichter, als ich dachte!« Alexandra schlug der Geruch frischer Farbe entgegen, als sie den terrazzobelegten Hausflur betrat, und sie schickte sich unter Herzklopfen an, das glänzend weiße Treppenhaus bis zur zweiten Etage emporzusteigen. Frau Schröder, eine schlanke Mittfünfzigerin, deren brünettes, mittellanges Haar von attraktiven grauen Strähnen durchzogen war, erwartete sie bereits – ein bedauerndes Lächeln im Gesicht.
»So sehen Sie also aus, ich war schon gespannt!« Sie musterte Alexandra skeptisch. »Eine Ähnlichkeit zu Ihrem Bruder kann ich aber überhaupt nicht feststellen.«
»Das geht vielen so, die uns kennen. Es liegt wahrscheinlich daran, dass wir zwei verschiedene Väter hatten«, beeilte sich Alexandra die Unsicherheit der anderen zu entkräften. »Hat mein Bruder Ihnen das nie erzählt?«
»Nein, so vertraut waren wir nicht miteinander. Einen Kaffee oder ein Glas Wein haben wir ab und an zusammen getrunken, wenn ich seine Blumen während seiner Abwesenheit gießen sollte. Und meistens hat er mir eine nette Kleinigkeit als Dankeschön mitgebracht, wenn er zurückkam.« Sie lächelte. »Arbeiten Sie auch an der Universität?«, setzte sie unvermittelt hinzu.
»Nein, ich bin selbstständig. Ich besitze eine Weinhandlung.«
»Dann haben Sie ja doch etwas Gemeinsames! Herr Hafner war ja auch ein großer Weinliebhaber.«
»Das stimmt.« Alexandra setzte ihr traurigstes Gesicht auf und senkte den Kopf.
»Furchtbar, was mit Ihrem Bruder passiert ist. Er war ein so feiner Mensch!« Frau Schröders Augen röteten sich. »Ein solches Ende hat keiner verdient.«
Alexandra nickte ernst, dann sah sie Frau Schröder an. »Es stimmt, ein solch unrühmliches Ende hat niemand verdient, das ist alles furchtbar!« Sie machte eine Pause, bevor sie ins Blaue fragte: »Was ich Sie gern fragen wollte: Balduin sprach davon, dass er bei Ihnen einen Wohnungsschlüssel deponiert hat. Könnten Sie so freundlich sein, ihn mir zu leihen? Ich würde mich gern in seinen Räumen umsehen, es muss ja demnächst alles geregelt werden, und ich wollte mir gern einen Überblick verschaffen, Sie verstehen?« Alexandra seufzte schwer.
»Natürlich. Selbstverständlich. Moment, ich hole ihn gleich. Wenn Sie fertig sind, lade ich Sie auf eine Tasse Tee ein, wenn Sie mögen.« Frau Schröder schaute Alexandra abwartend an.
»Gern, das ist sehr lieb von Ihnen.«
Als Alexandra einige Minuten später Balduin Hafners Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, lehnte sie sich mit dem Rücken an deren Innenseite und tat einen tiefen Atemzug. Oh je, sie hatte alle Register gezogen und noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen gehabt. Die Angelegenheit schien sich langsam zu verselbstständigen. Einen Moment lang war sie sich tatsächlich wie die Schwester des Toten vorgekommen! Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass sie schließlich Licht in die Umstände dieses gewaltsamen Todes bringen wollte, immerhin war der Professor auf ihrem Grundstück gestorben, was – so versuchte sie sich einzureden – ihr Vorgehen rechtfertigte.
Sie ging ein paar Schritte durch den Flur, an der Biedermeierkommode vorbei, über der ein antiker Spiegel hing, wandte sich intuitiv nach rechts und stand bald darauf im Wohnzimmer.
Mit allem hatte sie gerechnet, nur nicht damit, dass die Einrichtung genau dem Eindruck ihrer früheren Eingebung entsprach. Der schwere Schreibtisch, der Orientteppich, der dunkle Drehstuhl, die Schreibtischlampe – Alexandra begann zu zittern, weil ihr das alles höchst unheimlich vorkam. Obwohl sie den Toten nicht kannte, konnte sie sich in seine Persönlichkeit einfühlen, mochte es an der Atmosphäre der Räume liegen oder an dem, was sie bereits über Hafner wusste. Alexandra versuchte spontan, ihre Gefühle auszuschalten und der Sache mit Logik
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