Rose Harbor und der Traum von Glueck
Offensichtlich verfügte sie mittlerweile über einige Übung, Richards schroffes Benehmen zu unterlaufen.
Sie betraten den Raum, und Joshs Blick fiel augenblicklich auf den alten Mann, der in einem Sessel mit verstellbarer Lehne saß. Genau dort hatte er schon früher bevorzugt gesessen. Jetzt allerdings wirkte er darin klein und zerbrechlich.
Zwar war Richard nie ein kräftiger, großer Mann gewesen, sondern etwa einen halben Kopf kleiner als Josh, der es zur Zeit seines Highschoolabschlusses immerhin bereits auf mehr als einen Meter achtzig brachte. Seine geringere Körpergröße machte Richard früher allerdings durch ausgeklügelte Bosheiten wett, meist verbale Drangsalierungen, die sich nach dem Tod seiner Mutter zunehmend verstärkten.
Als Richard Josh erkannte, verdunkelten sich seine Augen vor Schreck. Für den Bruchteil einer Sekunde schien sein Blick weicher zu werden, bevor er sogleich zu seiner aggressiven Haltung zurückfand.
» Was hast du hier zu suchen? « , schnarrte er.
Josh erstarrte unwillkürlich. Konnte es nicht fassen, dass ein todkranker Mann noch immer über die Macht verfügte, ihn einzuschüchtern.
» Ich bin gekommen, um nach dir zu sehen und ein paar von meinen Sachen zu holen, die ich damals zurücklassen musste. «
» Was für Sachen? Nichts nimmst du mit, verstanden? Nicht ein einziges Stück! «
Heiße Wut wallte in Josh auf. Er verkniff sich eine zornige Bemerkung, um Richard nicht merken zu lassen, wie sehr er ihn reizte. Diese Genugtuung gönnte er ihm nicht.
Michelle legte beschwichtigend eine Hand auf seinen Arm.
» Kann ich irgendetwas für Sie tun, Mr. Lambert? « , wandte sie sich an den Kranken.
» Nein « , bellte Richard, stieß die Decke zur Seite und versuchte aufzustehen.
Bevor er sich verletzen konnte, sprang Michelle vor.
» Mr. Lambert, bitte! «
Richard sank in die Polster zurück. Er war totenblass geworden und sah aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. Laut hallten seine stoßweisen, rasselnden Atemzüge im Raum wider. Verzweifelt rang er nach Luft.
Josh erkannte, dass Herz und Lungen nur noch unzureichend arbeiteten, und fühlte sich trotz seines Grolls elend. Er wollte Richard nicht provozieren – nicht nachdem er dessen Hinfälligkeit gesehen hatte.
» Ich nehme nichts ohne deine Erlaubnis « , versicherte er schnell.
» Du bist nichts als ein raffgieriger Geier « , krächzte Richard mit zittriger, schwacher Stimme, sobald er wieder zu Atem gekommen war. » Bist du hier, um über meinem Kopf zu kreisen, bis ich sterbe und du mich bestehlen kannst? Genau wie damals, als du ein nichtsnutziger Junge warst? «
» Ich will nichts von dir « , beharrte Josh und atmete tief durch.
Fünf Minuten mit seinem Stiefvater, und schon begann sein Blut zu kochen.
» Wenn du auf Almosen aus bist, dann … «
» Wie gesagt, ich will nichts von dir « , schnitt Josh ihm nachdrücklich das Wort ab.
» Du bekommst auch nichts. «
» Glaubst du wirklich, ich würde irgendetwas von dir wollen? « , fragte Josh. » Mache ich einen so verzweifelten Eindruck? «
» Du warst verzweifelt genug, mir zweihundert Dollar zu stehlen. Viel tiefer kannst du nicht sinken. «
Josh ballte die Fäuste. Wenn er jetzt nicht ging, würde er etwas sagen oder tun, was er später bereute. Also machte er auf dem Absatz kehrt, verließ das Haus und marschierte auf dem Bürgersteig auf und ab, um seine Wut zu zähmen.
Michelle folgte ihm wenige Minuten später. Inzwischen hatte Josh seine Fassung wiedergewonnen.
» Alles in Ordnung? « , fragte sie.
Josh ging nicht auf die Frage ein. » Wie geht es ihm deiner Meinung nach? « , fragte er stattdessen. » Mir fehlt jeder Vergleich. «
» Er ist geschwächt, aber den Umständen entsprechend okay. «
Josh blies langsam den Atem aus und schloss die Augen. » Schlechter hätte das alles nicht laufen können. «
» Richard ist nicht er selbst. «
Josh gab einen verächtlichen Laut von sich. » Da irrst du dich gewaltig. Er hasste mich schon früher, und daran hat sich bis heute nichts geändert. «
» Was war das mit den zweihundert Dollar? « , erkundigte sich Michelle.
» Ich habe das Geld nicht genommen « , erwiderte er tonlos.
» Aber das verschwundene Geld war der Grund dafür, dass er dich aus dem Haus gejagt hat, nicht wahr? «
Er schob die Hände in die Taschen, zog die Schultern hoch und nickte.
» Wer war es dann? « Sie wartete nicht auf seine Antwort, sondern gab sie sich selbst. » Dylan?
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