Rose Harbor und der Traum von Glueck
vor nicht glauben konnte, wirklich Michelle vor sich zu sehen. Das Mädchen, an das er sich erinnerte, war schüchtern und in sich gekehrt gewesen und hatte sich in seiner Haut sichtlich unwohl gefühlt. Er wusste es nur allzu gut, denn schließlich waren sie Nachbarn gewesen und Tag für Tag mit dem gleichen Schulbus gefahren.
Sie hatte Freundinnen gehabt, da war sich Josh ganz sicher, ohne dass ihm Namen einfallen wollten. Dagegen erinnerte er sich genau an jene Mitschüler, die ständig herabsetzende und hämische Bemerkungen über sie machten. Michelle hatte das geflissentlich überhört, obwohl es sie bestimmt zutiefst verletzt hatte. Ein paarmal wollte er den Lästermäulern Paroli bieten – mit dem Erfolg, dass er ebenfalls in die Schusslinie geriet. Er sei wohl in die Dicke verliebt, hänselten sie ihn.
» Wie wär’s mit einem Kaffee? « , fragte sie.
» Gern. «
Ihm lag weniger am Kaffee als daran, den Besuch bei Richard noch ein bisschen aufzuschieben. Also folgte er Michelle in die Küche und setzte sich an die Theke, während sie seinen Becher füllte.
» Wann hast du eigentlich so stark abgenommen? « , fragte er.
Nicht die geschickteste Art, ein Gespräch zu beginnen, wusste er, doch er wollte genau das unbedingt in Erfahrung bringen.
Michelle zuckte die Achseln, als sei das keine große Sache gewesen – dabei musste es eigentlich ein entscheidender Wendepunkt in ihrem Leben gewesen sein.
» Das ist schon ein paar Jahre her. «
» Hat Dylan dich je so gesehen? « , erkundigte er sich behutsam und hoffte nur, dass seine Frage sie nicht kränkte.
» Zum Zeitpunkt seines Unfalls hatte ich zwar bereits ziemlich viel Gewicht verloren, aber ich glaube nicht, dass ihm das aufgefallen ist. «
Josh schaute sie verständnislos an.
» Dylan wohnte damals nicht mehr zu Hause « , erklärte sie ihm. » Deshalb haben wir uns nicht oft gesehen, und außerdem war er mit Brooke zusammen. «
» Brooke Davis? « , fragte Josh.
Dylan hatte sich bereits auf der Highschool sehr zu Brooke hingezogen gefühlt. Sie war ein wildes Mädchen mit feuerrotem Haar und einem ungebärdigen Temperament. Bestimmt übte sie keinen günstigen Einfluss auf seinen Stiefbruder aus.
» Lebten sie zusammen? « , wollte er wissen.
Michelle nickte, und Josh merkte, dass er von Dylans letzten Lebensjahren herzlich wenig wusste. Irgendwie hatte er immer angenommen, der Jüngere habe bis zum Schluss bei seinem Vater gewohnt. Josh nahm einen kleinen Schluck von seinem Kaffee, das Gespräch über Dylan stimmte ihn mit einem Mal traurig.
Abrupt wechselte er das Thema.
» Wir haben gestern viel über mich gesprochen. Und was ist mit dir? Du hast auch nicht geheiratet, oder? «
Sie lachte verlegen. » Ich war es mal für kurze Zeit. «
» Du warst es? « , fragte er ungläubig und bereute diese Taktlosigkeit sogleich.
Wieso zog er immer falsche Schlüsse?
» Ja, nicht mal ein Jahr « , fuhr Michelle fort. » Es war ein Fehler, den ich fast im selben Moment bereute. Ich habe Jason mit zwanzig geheiratet und mich mit einundzwanzig scheiden lassen. Er hat inzwischen eine andere gefunden und ist aus der Gegend weggezogen. «
» Tut mir leid. «
Josh wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Obwohl sie so obenhin von ihrer gescheiterten Ehe sprach, nahm er an, dass es dabei nicht ohne seelische Verletzungen abgegangen war.
» Mir auch « , sagte sie und zuckte die Achseln.
Josh registrierte, dass sie keine Erklärungen vorbrachte und keine Schuldzuweisungen, wie es häufig der Fall war bei verlassenen Ehefrauen. Er fand, dass diese Zurückhaltung sehr für Michelle sprach.
» Nachdem ich dich gestern abgesetzt habe, fiel mir auf, dass du kaum etwas über dich erzählt hast. «
» Was willst du denn wissen? « , forderte sie ihn heraus.
» Nun, erstens einmal, wo du wohnst. «
» Ich habe in Manchester eine Eigentumswohnung unten am Wasser. «
Das mussten neue Häuser sein. Josh erinnerte sich nicht daran, dass es dort zu seiner Zeit Wohnungen gegeben hatte.
» Macht dir dein Job Spaß? Als Sozialarbeiterin zu arbeiten, ist bestimmt nicht leicht. Vor allem momentan nicht, wo so viele Leute Hilfe brauchen. «
» Offen gestanden, liebe ich meine Arbeit. Ich bin in der Adoptionsabteilung beschäftigt und dafür verantwortlich, neue Familien für Kinder zu finden, die dringend ein Zuhause brauchen. In vieler Hinsicht eine wirklich schöne und befriedigende Aufgabe. «
Er schwieg einen Moment, um ihr nicht das Gefühl zu geben,
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