Rose Harbor und der Traum von Glueck
übersiedelten. Auch wenn beide es abstritten, hatten sie es nicht mehr ertragen, ständig an jene verhängnisvolle Dezembernacht erinnert zu werden.
Abby war über den Umzug sehr erleichtert gewesen, weil auch sie damit Cedar Cove endgültig hinter sich lassen konnte. Die Pläne ihrer Eltern waren das perfekte Alibi für sie gewesen, sich von ihrem alten Leben zu verabschieden und nach vorne zu schauen.
Künftig versuchte sie, das Geschehen zu verdrängen und zu vergessen, aber beides funktionierte nicht. Wie hätte sie jemals Angela aus ihrem Gedächtnis streichen oder in den hintersten Winkel ihres Kopfes zurückdrängen können? Als handle es sich um eine völlig bedeutungslose Episode in ihrem Leben und als trüge sie, Abby, nicht die Schuld an dem Verhängnis.
Schließlich war sie es gewesen, die den Unglückswagen steuerte, und diese Bürde lastete schwer auf ihren Schultern. Es kostete Jahre, bis sie begriff, dass sie in jener Nacht nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch ihre Seele verloren hatte.
Die unbekümmerte, sorglose Studentin von einst war in jener Nacht zusammen mit Angela gestorben. Danach hatten sich ihr ganzes Leben und ihre Persönlichkeit total verändert. Vor dem Unfall war sie gesellig, aufgeschlossen und lebenslustig gewesen – inzwischen wirkte sie in sich gekehrt, viel zu ernst und manchmal abweisend, ging eher selten aus, und noch seltener ließ sie sich auf ein Date ein. Es erschien ihr nicht richtig, ein unbeschwertes Leben zu führen, während Angela tot war. Zumal die Eltern sich nie vom Verlust ihrer einzigen Tochter erholten.
Nachdem sie ihren Collegeabschluss gemacht hatte, verließ Abby Seattle und den Bundesstaat Washington, um noch mehr Distanz zwischen sich und Cedar Cove zu legen, doch auch in der Ferne wurde sie nie wieder die Alte. Sie hatte nur wenige Freunde, vermied es, irgendjemanden zu nah an sich heranzulassen, weil ihr das wie ein Verrat an Angela vorgekommen wäre.
Sie habe sich einem Leben der Buße verschrieben, warnte sie ein Therapeut einmal nachdrücklich. Aber da nichts sie ihrer Überzeugung nach je von ihrer Schuld reinzuwaschen vermochte, verharrte sie in ihrer selbst gewählten inneren Isolation und geißelte sich weiterhin mit Vorwürfen. Auf diese Weise wurde ihre Schuld am Tod ihrer besten Freundin zu einem unlösbaren Bestandteil ihrer Persönlichkeit.
Die Übersiedlung nach Florida, wo ihr in Port St. Lucie ein Managementposten bei einem großen Teleshoppingunternehmen angeboten worden war, half ihr zunächst, ein wenig Abstand zu gewinnen. An einem Ort mit über dreißig Grad Wärme im Winter ließ sich die Existenz eines kleinen, neblig kalten Städtchens an einer Bucht im pazifischen Nordwesten leichter in den Bereich der Träume verdrängen, als wenn man es täglich von Seattle aus auf der anderen Seite des Sunds beinahe sehen konnte.
Trotzdem blieb der Albtraum allgegenwärtig, und in vieler Hinsicht kam es ihr vor, als sei ihr ganzes Leben nach dem Unfall zum Stillstand gekommen. Sie hatte sich daran gewöhnt, in einer Art Blase zu existieren, die sie von ihrer Umwelt isolierte.
Und jetzt war sie zurück in Cedar Cove.
Die ganze Familie freute sich für Roger. Bevor er Victoria kennenlernte, waren seine Beziehungen ausgesprochen flüchtig gewesen, und ihre Eltern hatten die Hoffnung auf eine Vergrößerung der Familie eigentlich schon aufgegeben. Von ihr nämlich, so der unausgesprochene Konsens, wurde das erst recht nicht erwartet, da sie seit dem Unfall unfähig schien, überhaupt eine Bindung einzugehen.
Abby rieb sich die Augen und blickte nach einem unruhigen Schlaf zum bestimmt zehnten Mal auf den Radiowecker. Sechs Uhr und noch immer stockfinster. Sie hatte ganze drei Stunden geschlafen, sofern man das ruhelose Umherwälzen als Schlaf bezeichnen konnte.
Sie schaltete die Nachttischlampe an und griff nach ihrem Buch, um sich abzulenken, bis es Zeit fürs Frühstück war. Anschließend würde sie zur Apotheke fahren, um Zahnpasta zu kaufen – sie fürchtete sich jetzt bereits davor, irgendwelchen Bekannten zu begegnen. Am Nachmittag stand dann ein Treffen mit ihren Eltern und dem Brautpaar an, um in der Kirche die Hochzeitsprozession zu proben.
Da Abby ihrem Bruder sein Glück von ganzem Herzen gönnte, wollte sie kein Spielverderber sein und ihm zuliebe ein strahlendes Lächeln zur Schau tragen.
6
J osh schlief nicht gut. Kein Wunder, denn die scheußliche Szene mit Richard ging ihm unaufhörlich im Kopf herum wie ein
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