Rose Harbor und der Traum von Glueck
weniger Tage hatte er miterlebt, wie sein Stiefvater immer mehr verfiel. Fast schien es, als habe der Kranke nur auf seine Ankunft gewartet, um endlich loslassen zu können.
Bei ihrer ersten Begegnung hatte Richard immerhin so viel Energie aufgebracht, seinem Ärger über den Stiefsohn Luft zu machen und ihn anzuschreien, während ihm jetzt kaum mehr die Kraft zum Atmen geblieben war.
» Ich mache uns etwas zu essen « , sagte Michelle hinter ihm.
Josh verspürte nicht den geringsten Appetit. » Für mich nicht, ich habe keinen Hunger. «
Michelle tat, als habe sie ihn nicht gehört. Sie verschwand in der Küche, und nach ein paar Minuten hörte Josh den Wasserkessel pfeifen. Kurz darauf kam sie mit zwei Bechern Tee zurück.
» Ich habe im Hospiz angerufen « , sagte sie.
Josh nahm ihr einen Becher ab, und sie setzten sich einander gegenüber – den Sessel, in dem Richard den größten Teil seiner Zeit verbrachte, ließen sie frei.
» Was haben sie gesagt? « , fragte er.
Michelle stellte ihren Tee auf einen Untersetzer und lehnte sich zurück. » Sie schicken heute Nachmittag jemanden vorbei, der nach ihm sieht. «
Das würde Richard ganz und gar nicht gefallen. Obwohl seine Kräfte zusehends schwanden und er immer weniger in der Lage war, über sich selbst zu entscheiden, fragte sich Josh, ob es richtig war, was sie taten, oder ob sie seinen Wunsch, allein in seinem Haus zu sterben, nicht respektieren sollten. Allerdings war das mit Michelle vermutlich nicht zu machen. Sie würde nicht von der Seite des Kranken weichen.
Wenn Josh ehrlich war, würde er am liebsten in seinen Wagen steigen und einfach wegfahren, um Cedar Cove und alle damit verbundenen Probleme einfach hinter sich zu lassen. Vielleicht halfen ihm ja ein paar Tage am Meer, um wieder mit sich ins Reine zu kommen.
Früher war er mit seiner Mutter gelegentlich nach Ocean Shores gefahren. Die seltenen Ausflüge, für die meistens das Geld fehlte, gehörten zu seinen liebsten Kindheitserinnerungen. Sie hatten eine Kühltasche vollgepackt, das Auto mit Kissen, Decken, Handtüchern, Plastikeimern und Schaufeln beladen und waren zum Strand gefahren. Urlaub für ein Wochenende.
Josh war begeistert vor den Wellen her am Strand entlanggelaufen, hatte sich über einen billigen Drachen gefreut, den seine Mutter ihm kaufte, und zugesehen, wie der Wind ihn so hoch in die Luft trug, dass er schließlich bloß ein kleiner Punkt am Himmel war. Er hatte gelacht und gelacht und war vor lauter Glück ganz außer sich gewesen.
Danach hatten er und seine Mutter erst eine große Sandburg gebaut und später mit Treibholz ein kleines Feuer entfacht und Hot Dogs geröstet. Sogar heute noch, nach all den Jahren, meinte Josh, nie etwas Besseres gegessen zu haben. Und nachts schliefen sie unter dem Sternenhimmel mit dem Meeresrauschen als Hintergrund.
» Du bist so still geworden « , stellte Michelle fest.
Joshs Kopf fuhr zu ihr herum. Er war so in seinen Erinnerungen gefangen gewesen, dass er Mühe hatte, in die Gegenwart zurückzukehren.
» Ich dachte gerade an einen Ausflug, den ich als Kind mit meiner Mutter gemacht habe. «
» Bevor sie Richard kennenlernte? «
Er nickte. » In den Jahren, als wir allein lebten, sind wir hin und wieder nach Ocean Shores gefahren, und eigentlich wollte ich dorthin, bevor ich zurückfliege. Bestimmt hat sich dort eine Menge verändert, aber die Erinnerungen werden immer bleiben. «
» Du warst später nie wieder dort? «
» Doch, ein Mal mit Dylan und Richard. «
Michelle schien seine Gedanken zu lesen. » Es war nicht dasselbe, oder? «
Josh war damals fünfzehn und besaß bereits einen Führerschein, der es ihm erlaubte, einen Motorroller zu mieten. Richard hatte einen zweiten gemietet und Dylan damit am Strand entlangfahren lassen. Zuerst hatten sie einen Heidenspaß gehabt, Seite an Seite über den Sand zu rasen und sich den Wind ins Gesicht peitschen zu lassen, doch dann war er gestürzt und das Motorrad beschädigt worden.
Richard rastete dermaßen aus, dass es sogar seiner Mutter auffiel. Es sei ein Unfall gewesen, versuchte Teresa ihren Mann zu beruhigen, was nichts daran änderte, dass Josh den Schaden von seinem Taschengeld begleichen musste. Außerdem bestand Richard darauf, sofort nach Hause zu fahren. Die Heimfahrt verlief unerträglich, die Spannung zwischen seiner Mutter und Richard ließ sich beinahe mit Händen greifen, und Dylan schmollte, dass der Tag verdorben sei, und gab Josh die Schuld. Und der
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