Rosehill 01 - Die Tochter des Lords
Da ihr Vater sich gern im Freien aufhielt, gab es gewisse Gemeinsamkeiten, und sie würden einen Gesprächsstoff finden. Sie konnte ihm von ihrem Garten im Paradies erzählen, und er würde ihr erklären, wie all die fremdartigen Blumen hießen.
Als sie um die nächste Ecke bog, sah sie einen älteren Mann, der sich auf ein Knie niedergelassen hatte und eine Blume inspizierte. Wie ein Gärtner war er nicht gekleidet, denn er trug eine dunkle Sonntagshose und ein schneeweißes Hemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Ein breitrandiger, tief in die Stirn gezogener Strohhut überschattete sein Gesicht.
War das ihr Vater? Sie wusste es nicht. Beinahe hätte sie kehrtgemacht, um ins Haus zu fliehen, doch sie besann sich anders und ging weiter.
Elliott hörte Röcke hinter sich rascheln und nahm an, ein Hausmädchen käme angelaufen, um zu fragen, ob er Hilfe brauche. Lächelnd griff er nach dem Korb, den er mit Blumen gefüllt hatte, und hielt ihn hoch. »Sicher wird sich meine Tochter über diese Blütenpracht in ihrem Zimmer freuen«, meinte er, ohne aufzublicken.
Zögernd ergriff Mary Rose den Henkel und stand unschlüssig da. Sollte sie ein Gespräch eröffnen, indem sie sich vorstellte? O Gott, hoffentlich würde ihre Stimme nicht verraten, wie nervös sie war!
»Ob meine Victoria Blumen mag …«, bemerkte Lord Elliott.
Da holte sie tief Atem. »O ja, Vater, ich liebe Blumen.«
Er rührte sich nicht, und eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bis er sich endlich zu ihr wandte. Beim ersten Anblick des Mädchens drohte sein Herz stehen zu bleiben. Sonnenlicht umgab das goldblonde Haar, verlieh der ganzen Gestalt eine mystische Aura, und sekundenlang glaubte er, seine geliebte Agatha wäre vom Himmel herabgestiegen, um zu ihm zurückzukehren.
Ganz die Tochter ihrer Mutter … Nun war seine Victoria nach Hause gekommen. Elliott schwankte und fürchtete, das Gleichgewicht zu verlieren, doch sie streckte ihm eine hilfreiche Hand entgegen. Daran klammerte er sich wie an einen Rettungsanker. Wie verzaubert starrte er Mary Rose an, und auch ihr sanftes Lächeln erinnerte ihn an Agatha. Dann verschwamm sie vor seinen Augen, und er merkte, dass er lautlose Tränen vergoss.
Sie half ihm auf die Beine, wollte einen Arm um seine Taille legen, um ihn zu stützen, doch er ließ ihre Hand nicht los. Inzwischen war der Strohhut zu Boden gefallen, und sie konnte das Gesicht ihres Vaters betrachten. Trotz seines fortgeschrittenen Alters sah er sehr attraktiv aus. Im Sonnenschein funkelte sein Haar wie Silber.
Er hatte hohe Wangenknochen und eine wohl geformte, gerade Nase. Seine stolze Haltung erinnerte sie an ihren Bruder Adam, in dessen Adern das Blut mehrerer Stammeshäuptlinge floß, seiner edlen Vorfahren. Kam auch Lord Elliott aus einer so vornehmen Familie? Irgendwann würde sie ihn danach fragen, aber jetzt fand sie es unpassend.
Schweigend schauten sich Vater und Tochter an, und Elliott rang tapfer nach Fassung. Schließlich zog er ein blütenweißes leinenes Taschentuch, hervor und wischte über seine Augen. Hand in Hand wanderten sie zum Haus, und er begann endlich zu sprechen. Deutlich verriet seine bebende Stimme, wie ergriffen er war. »Deine Heimkehr macht mich überglücklich.«
Sie nickte und überlegte, was sie antworten sollte. Vor allem wollte sie ehrlich sein, aber auch freundlich, und so sprach sie einfach aus, was ihr Herz bewegte. »Vater?«
»Ja, Victoria?«
»Ich bin so froh, dass du mich nicht weggeworfen hast.«
Lord Elliotts jüngere Schwester Lillian war das erste Mitglied der Familie, die sich auf dem Landsitz versammelte, um Victorias Rückkehr zu feiern. Obwohl es stichhaltige Beweise gab, mochte sie noch immer nicht glauben, dass es sich tatsächlich um ihre Nichte handelte. Zu oft hatte sie mit ihrem Bruder gelitten, wenn die Detektive falschen Spuren gefolgt waren. Deshalb wollte sie sich nur auf ihr eigenes Urteil verlassen, mit eigenen Augen feststellen, ob tatsächlich Victoria vor ihr stehen würde – oder eine Hochstaplerin, die nach finanziellem Gewinn strebte.
»William, warum sitzt du denn hier draußen in der Hitze?«, rief sie, als sie aus dem Haus eilte. »Du solltest wirklich vorsichtiger sein, sonst wirst du noch krank!«
Höflich erhoben sich Harrison, Lord Elliott und Mary Rose aus den Gartenstühlen, und Lillian musterte ihre Nichte aufmerksam. »Ja, in der Tat, sie ähnelt Agatha.«
Elliott stellte ihr seine Tochter vor, und Mary Rose lächelte. Da
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