Rosen für Apoll
großen Tragödien in der Menschheitsgeschichte, als eine schreckliche Warnung vor dem Glauben an die Masse, als einen Hohn auf ihre Unkenntnis der Qualität und ihren Abzählvers »Ene mene ming mang« empfunden — genau das hat Sokrates gewollt. Er, der sein Leben lang den Dingen durch Fragen auf die Spur kommen wollte (kein Mensch in der Welt hat so viel Fragesätze gesprochen wie Sokrates), hat es sich nicht entgehen lassen, dem athenischen Volk mit seinem Tode noch eine letzte Frage vorzulegen, die peinlichste von allen. Und darüber möchte ich gern ein paar Worte sagen.
Sokrates galt als »Sophist«, und die Sophisten, die sich über alles in der Welt den Kopf zerbrachen, alles bezweifelten und auf den Urgrund der Wahrheit kommen wollten, diese Menschen waren dem griechischen Volk fremd, unbegreiflich, von einem anderen Planeten, aufreizend, zu beargwöhnen, unheimlich. Man hielt sie für Unruhestifter. Für »Heimliche«, das heißt für Menschen, die etwas besaßen, was die Masse nicht verstand, und das verzeiht sie nie. Sokrates hatte nun noch das Pech, daß so verhaßte und politisch belastete Leute wie Alkibiades und Kritias, der Führer der »Dreißig Tyrannen«, seine Schüler gewesen waren. Doch nicht dies alles erklärt die plötzliche Anklage gegen ihn, sondern die »Nachkriegszeit«, der noch nicht abgeklungene Rausch des Kämpfens und Richtens.
Sie wissen, wie der Prozeß verlief. Der greise Mann wurde eines Tages im Jahre 399 vor ein Gerichtstribunal von 501 Bürgern geschleppt und angeklagt, die Jugend verdorben und zur Gottlosigkeit verführt zu haben.
Während ich dies eben niederschrieb, überlegte ich mir, ob es nicht eine bessere, eine weniger banale Formulierung gäbe; aber es ist die wörtliche. Die Anklage gegen Sokrates ist ein Hexenprozeß, und Hexenprozesse haben keine glaubwürdigen Formulierungen.
Sokrates ging auf die Anschuldigungen gar nicht ein. Er hielt, lächelnd und furchtlos, eine Verteidigungsrede, die nicht ihn, sondern eigentlich seine Ankläger in ihrem Irrtum verteidigte. Er sprach von seiner Liebe zu den Menschen und von dem Sinn eines Lebens, das sich diese Liebe zur Aufgabe gemacht hat.
Die Rede gehört zu dem Schönsten, was uns die Weltliteratur überliefert hat.
Sokrates, dem das Gesetz vorschrieb, selbst ein Strafmaß vorzuschlagen, beantragte durchaus richtig und ohne jeden Zynismus lebenslängliche Speisung im Prytaneion. Das Volk aber war empört und verurteilte ihn mit drei (andere Lesart: dreißig) Stimmen Mehrheit zum Tode.
Keiner der geistig führenden Männer Athens hätte dieses Urteil gefällt. Keiner von ihnen wäre so intolerant, keiner so kurzsichtig, keiner so von Leidenschaft verhetzt gewesen. Es gab damals mindestens fünfhundert Männer in Athen, die als autoritäre Richter berufener gewesen wären als »das Volk«. Jedoch Quantität ging vor Qualität. Ene mene ming mang... In der Stadt war es bald ein offenes Geheimnis, daß man in Sokrates’ Zelle ein- und ausgehen konnte und die Tür des Nachts nicht gerade mit Argusaugen bewacht war. Die Freunde wollten ihm zur Flucht verhelfen, und »das Volk« wäre damit einverstanden gewesen. Diese Situation war tragisch. Das Offenlassen der Gefängnistüren nach dem Urteilsspruch hatte nichts mehr mit Oppositionsrecht zu tun, sondern war dem Buchstaben und dem demokratischen Geiste nach ein Verbrechen an der Demokratie; denn die Mehrheit in einer Demokratie macht mit ihrem Beschluß nicht nur einen »Vorschlag«, sondern ein Diktat. Das war es, was Sokrates zu seiner letzten bescheidenen Frage benutzte: Ist die Demokratie nicht auch eine Diktatur? Welches Recht haben drei Stimmen, ihn zum Tode zu verurteilen, wenn sich das Volk in 498 Stimmen nicht im klaren ist?
Das große Theater, das Sokrates hier inszenierte, ging als ein Kammerspiel fast unbeachtet über die Bühne. Nur ein kleiner Kreis, nur seine engsten Freunde bekamen die Tragödie seiner Fragestellung, die an das Ordnungsprinzip der Welt rührt, ganz mit.
Platon hat uns die letzten Minuten und den Abschied Sokrates’ erschütternd beschrieben. Nach einem langen Gespräch mit den Freunden ruft Sokrates gegen Abend nach dem Schierlingsbecher. Ängstlich versucht Kriton, ihn zu hindern: »Aber sieh doch, Sokrates, die Sonne bescheint noch die Berge und ist noch nicht untergegangen! Und ich weiß, daß andere auch erst ganz spät getrunken haben...« Sokrates winkt lächelnd ab.
»Dann kam der Wärter herein, in der Hand den
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