Rosendorfer muss dran glauben (German Edition)
her?« Moritz ist sichtlich geschockt, und ich muss zugeben, damit hatte selbst ich nicht gerechnet. Das Filmchen sieht aus wie die werkgetreue Verfilmung seiner Geschichte. Sogar der kurze Text stimmt Wort für Wort.
»Hab ich doch gesagt: aus unserem Safe in der Kanzlei. Die Speicherkarte gehört unserem Mandanten. Der, der die billige Kamera gekauft hat.«
»Ich brauche den Film!«
»Bist du bescheuert? Den hat er mir anvertraut, das fällt unter mein Anwaltsgeheimnis.«
Ehe Peter die Kamera zurückziehen kann, greift Moritz nach ihr, wirft sie Anne auf den Schoß und tritt das Gaspedal durch.
»Hey! Komm sofort zurück! Scheiße! Das kannst du nicht machen! Ich krieg einen Riesenärger!«
Peter läuft dem Wagen hinterher, doch nur kurz, und das ist bei den Beschleunigungswerten von Hobbes Sportwagen auch nicht überraschend.
»Was sollte das denn?«, fragt Anne, die Moritz verwundert von der Seite anstarrt.
»Gar nichts. Er bekommt Vaters Kanzlei, ich seine Kamera. Ist doch nur fair«, antwortet Moritz. Das sollte wahrscheinlich lustig klingen. Aber sein Gesichtsausdruck wirkt überhaupt nicht lustig. Im Gegenteil. Moritz scheint verunsichert, und an seiner Stelle wäre ich das auch.
»Sag mal, geht’s dir noch gut?!«, sagt Anne.
»Keine Ahnung«, erwidert Moritz.
»Was ist denn da überhaupt drauf?«
»Nichts!«
»Jetzt zeig doch mal!« Anne greift nach der Kamera.
»Hör auf, oder willst du uns umbringen?«, brüllt Moritz, der den Wagen nur noch mit der linken Hand steuert, weil er die rechte braucht, um Anne daran zu hindern, sich den Film anzuschauen.
Als das Cabrio kurz ins Schlingern gerät, gibt sie auf, und Moritz packt die Kamera in den Fußraum des Wagens, außer Reichweite von Anne.
»Da ist gar nichts drauf. Nichts Wichtiges jedenfalls.«
»Nichts? Und deswegen machst du so ein Theater?«
»Tu ich doch gar nicht«, lügt Moritz.
Er gibt Gas und schaltet das Radio an. So laut, dass ich die Lautstärke des Mikros runterdrehen muss, um keinen Hörsturz zu erleiden. Es ist so laut, dass im Wagen keine Unterhaltung mehr möglich ist, und das war wahrscheinlich auch der Sinn der Aktion, nehme ich wenigstens stark an.
Anne hat ihre Brille abgenommen und kaut auf einem der Bügel. Sie betrachtet die Landschaft, die rechts an ihr vorbeizieht. Ich glaube nicht, dass sie nachher sagen könnte, was sie da draußen gesehen hat. Ich glaube eher, dass ihr durch den Kopf geht, was Moritz’ Mutter über die Rosendorfer-Krankheit gesagt hat. Das würde erklären, warum sich Moritz – aus ihrer Sicht – manchmal ein wenig seltsam benimmt, so wie eben mit der Kamera.
Auch Moritz brütet vor sich hin. Er kaut wieder auf seiner Unterlippe herum und überlegt sicher, ob der Film echt ist oder doch nur ein Fake. Ich kenne ihn mittlerweile lang genug, ich weiß, wie er tickt. Er ist nicht dumm, und deswegen schaltet er bestimmt gleich in den Logikmodus um: Wenn es wirklich ein Fake war, dann kann er das Filmchen gleich wieder vergessen. Egal. Wenn es jedoch echt ist, dann läuft da draußen jemand rum, der seine Geschichten in die Realität umsetzt. Dann wäre womöglich auch der Witwer im Radio auf der Hinfahrt gar kein Schauspieler gewesen. Und wenn der auch schon echt war, dann ist es nicht egal. Dann ist es alles andere als egal.
Natürlich wäre es bequemer, an Erklärung Nummer eins zu glauben. Aber kann er sich das leisten? So ungefähr wird es in seinem Kopf im Augenblick aussehen, davon bin ich überzeugt, und wenn ich ihm einen Rat geben könnte, dann würde ich ihm sagen: Geh auf Nummer sicher, und entscheide dich lieber für Variante zwei. Doch so, wie er mit Vollgas über die Autobahn heizt, hat er das sowieso schon getan.
Nach zwei Stunden machen die beiden Halt auf einer Autobahnraststelle. Anne ist auf dem Klo. Moritz steht neben dem Wagen und telefoniert, während er gleichzeitig den kurzen Film wieder und wieder auf der Kamera ablaufen lässt.
»Pascal, wir müssen uns treffen. Heute noch. Es ist mir egal, was du vorhast. Es ist wichtig! Da draußen läuft irgendwas in die völlig falsche Richtung. Vielleicht ist alles auch nur ein Zufall. Keine Ahnung. Heute Abend um neun in der SonderBar, dann erklär ich dir alles.«
Anne kommt von den Toiletten zurück. Moritz bemerkt sie nicht, weil sie sich ihm von hinten nähert und außerdem gerade ein dicker Lkw vorbeirauscht, sodass Moritz sie auch nicht hören kann. Neugierig stellt sich Anne auf die Zehenspitzen, um über
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