Rosendorn
Welt der Sterblichen.
Den restlichen Abend über ließ ich mir den Gedanken durch den Kopf gehen. Dad fiel meine grüblerische Laune natürlich auf, doch obwohl er ein paarmal versuchte, ein Gespräch mit mir anzufangen, drängte er mich nicht.
Eine Weile sah ich zusammen mit ihm fern, die Arme vor der Brust verschränkt, die Schultern hochgezogen. Ich hoffte, dass ich nicht zu dick auftrug und mich dadurch verdächtig machte. Offenbar nicht, denn Dad wirkte fast dankbar, als ich schließlich erklärte, nicht in der Stimmung für einen Fernsehabend zu sein und stattdessen ein bisschen im Internet surfen zu wollen.
Als ich nach oben kam, schloss ich die Tür hinter mir und fuhr den Computer hoch. Bei der Suche nach meinem Vater hatte ich die Seite mit dem Telefonverzeichnis von Avalon als Lesezeichen hinterlegt, also war es kein Problem, die Website wiederzufinden. Unwillkürlich hielt ich den Atem an, als ich Ethans Namen in das Suchfeld eingab. Erleichtert seufzte ich, als seine Telefonnummer erschien – und musste im nächsten Moment über mich selbst lachen, denn es war noch viel zu früh, um so etwas wie Erleichterung zu empfinden. Ich wusste nicht, wie die Chancen standen, dass Ethan mir überhaupt helfen
konnte,
geschweige denn, dass er mir helfen
würde.
Aber ich würde es schon bald herausfinden.
Ich wählte die Seite einer Internetradiostation an und drehte die Lautstärke an meinem Computer hoch. Wenn Dad mich überwachte und mein Telefonat belauschen wollte, musste er nur an einen anderen Apparat im Haus gehen; doch wenigstens bestand nicht die Gefahr, dass er versehentlich etwas hörte, falls er aus irgendeinem Grund nach mir sehen wollte.
Ein paarmal nahm ich den Hörer in die Hand, begann zu wählen, bekam Angst und legte wieder auf, bevor ich schließlich doch Ethans Nummer eintippte. Ich weiß nicht, ob ich den Mut aufgebracht hätte, es noch mal zu versuchen, wenn Ethan nicht zu Hause gewesen wäre, aber zum Glück nahm er ab, ehe ich den Hörer in Panik wieder auf die Gabel knallen konnte.
»Hallo?«, meldete er sich.
Meine Zunge klebte an meinem Gaumen, und ich hockte wie ein Idiot neben dem Telefon, ohne auch nur ein Wort herauszubringen. Wie konnte ich einen Typ um Hilfe bitten, der zum einen in Kauf genommen hatte, dass ich bei einem von ihm geplanten Angriff von Spriggans getötet wurde, und der zum anderen Magie benutzt hatte, um mich zu verführen – aus rein politischen Gründen?
»Hallo?«, wiederholte er. »Ist da jemand?«
Andererseits blieben mir nicht gerade endlos viele Möglichkeiten. Ich räusperte mich, und schließlich gelang es mir sogar, etwas zu sagen. »Ja. Ich bin’s. Dana.« Ich verdrehte über mich selbst die Augen. Sicherlich hatte er meine Stimme erkannt, auch ohne dass ich ihm meinen Namen sagte.
Er zögerte, ehe er antwortete. »Tja, das ist eine Überraschung«, murmelte er so leise, dass ich mir nicht sicher war, ob es überhaupt für meine Ohren bestimmt gewesen war. »Ist alles in Ordnung?«
»Äh, ja. Ziemlich. Äh …« O Gott, bitte! Ging es noch jämmerlicher? »Also, eigentlich nicht.«
»Tut mir leid. Das war eine blöde Frage. Du würdest mich ja nicht anrufen, wenn alles in Ordnung wäre. Bist du an einem sicheren Ort? Brauchst du Hilfe? Soll ich dich holen?«
»Mir geht es gut«, erwiderte ich und fühlte mich allmählich wieder etwas selbstbewusster. »Ich bin bei Dad zu Hause.«
»Oh.«
»Hör zu, du weißt, in welchem Schlamassel ich stecke. Dein Vater hat dich doch bestimmt darüber informiert, oder?« Denn ich konnte mir nicht vorstellen, dass Alistair Ethan nicht davon erzählt hatte, dass die Königinnen hinter mir her waren – nicht, wenn die beiden schon vorher gemeinsame Sache gemacht hatten.
»Ja, er hat es mir gesagt. Ich bin allerdings schon von allein darauf gekommen. Je mehr ich über diese Spriggans nachgedacht habe …« Seine Stimme erstarb. Wahrscheinlich war ihm klargeworden, dass es nicht der geschickteste Schachzug gewesen war, die Sprache auf die Spriggans zu bringen.
»Mein Dad sagt, ich solle zu meiner eigenen Sicherheit in Avalon bleiben. Ich wette, dass dein Vater und Tante Grace das genauso sehen.«
»Du allerdings nicht.«
»Ich nehme an, Kimber hat dir erzählt, was neulich mit Finn passiert ist?«
»Ja.« Ich konnte ihm praktisch anhören, wie er zusammenzuckte.
»Wenn ich hierbleibe, werden beide Königinnen hinter mir her sein. Und sie haben unzählige Waffen, die sie gegen mich einsetzen
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