Rosendorn
würde er mir auch verraten, warum er es getan hatte. Die Frage war nur: Wollte ich die Wahrheit wirklich wissen?
Als Dad am Abend nach Hause kam, beschloss ich, dass seine kleinen manipulativen Tricks mein geringstes Problem waren. Denn er hatte ein weiteres Treffen mit Grace und Alistair abgehalten, und die »Großen Drei« hatten sich geeinigt, wo ich leben und wo der »sichere Unterschlupf« sein würde, in dem die bösen Schurken mich angeblich nicht finden könnten.
Ich hatte den leisen Verdacht, dass Moms Drohung, auch ohne Dads Einverständnis mit mir aus Avalon zu verschwinden, die »Großen Drei« dazu inspiriert hatte, schneller zu einer Einigung zu gelangen, als es sonst vielleicht der Fall gewesen wäre. Außerdem vermutete ich, dass es viel schwieriger für mich werden würde, aus dem sicheren Unterschlupf zu entkommen als aus Dads Haus. Dad erklärte mir, dass sie planten, das Versteck schon am nächsten Tag fertig zu haben. Also, was auch immer ich vorhatte, ich musste es schnell tun.
Es gab zwei Hauptprobleme, die ich lösen musste, wenn ich hoffte, mit Mom nach Hause zurückkehren zu können. Erstens musste ich mich aus Dads Haus schleichen. Und zweitens musste ich aus Avalon verschwinden.
Die erste Aufgabe sollte lösbar sein, solange ich wartete, bis Dad heute Nacht eingeschlafen war. An Finn wäre ich nicht vorbeigekommen, aber Dad rechnete wohl kaum damit, dass ich so dumm sein könnte und mitten in der Nacht versuchen würde, mich aus dem Haus zu schleichen. Ich bemühte mich, nicht über die furchtbaren Dinge nachzudenken, die mir zustoßen könnten, wenn die Bösen mich in der Nacht dabei erwischten, wie ich allein durch die Straßen von Avalon wanderte.
Das zweite Problem war wesentlich schwieriger zu lösen. Wie sollte ich Avalon ohne Reisepass verlassen? Verdammt, selbst wenn es mir wie durch ein Wunder gelingen sollte, ohne meinen Pass über die Grenze nach England zu gelangen, würde ich nicht in die Vereinigten Staaten einreisen können. Zwar war ich mir sicher, dass ich in London einen neuen Pass beantragen könnte, doch das kostete Zeit, und Mom und ich mussten so schnell wie möglich und ohne Spuren zu hinterlassen verschwinden.
Meinen Pass brauchte ich also unbedingt. Aber wenn ich Dad danach fragte, würde ihn das misstrauisch machen – vor allem, weil er wusste, dass Mom plante, mich vor ihm zu »retten«.
Ich war vollkommen aufgeschmissen. Klar, ich konnte versuchen, den Pass im Haus zu suchen, doch ich wusste nicht einmal hundertprozentig, ob er sich hier befand, und die Chancen, dass Dad mich erwischte und Verdacht schöpfte, waren einfach zu groß. Wahrscheinlich war es eine gute Sache, dass Pässe so schwierig zu fälschen waren, aber im Augenblick empfand ich das als ziemlich ungünstig.
Und dann fiel mir wieder ein, wo ich mich gerade befand: in Avalon. In der Wilden Stadt, der Stadt der Magie. Wenn ich schon nicht die technischen Möglichkeiten hatte, einen Pass zu fälschen, konnte mir vielleicht die Magie helfen? Ich erinnerte mich wieder an den kargen kleinen Raum in den Tunneln, in den Ethan mich gebracht hatte; den Raum, den niemals jemand finden würde, weil Ethan ihn mit einem Illusionszauber getarnt hatte. Wenn er eine Mauer erschaffen konnte, die nicht da war, konnte er dann auch einen Pass herbeizaubern?
Es war eine verrückte Idee. Selbst wenn Ethan es schaffen konnte, hatte ich offensichtlich den Verstand verloren, wenn ich auch nur
mit dem Gedanken spielte,
ihn darum zu bitten. Er war immerhin der Feind. Gut, vielleicht nicht direkt der
Feind,
doch er war definitiv ein verlogener Idiot, der nur seine eigenen Interessen – und die seines Vaters – im Blick hatte.
Andererseits war er ein ziemliches Risiko eingegangen, als er sich neulich bei
Starbucks
mit mir getroffen und mir die ganze Wahrheit über den Angriff der Spriggans erzählt hatte. Finn war sehr angespannt gewesen und hätte Ethan ganz leicht dem Erdboden gleichmachen können. Genau genommen hätte Ethan meinen Dad auch ebenso gut über seinen Vater warnen lassen können. Dass er stattdessen persönlich mit mir gesprochen hatte, zeigte mir, dass ihm möglicherweise ehrlich leidtat, was er getan hatte.
Aber tat es ihm leid genug, um mir bei meiner Flucht aus Avalon zu helfen?
Nervös kaute ich an meiner Unterlippe. Selbst wenn er mir helfen wollen würde, war es immer noch möglich, dass er derselben Ansicht wie mein Dad war und auch glaubte, dass ich in Avalon sicherer war als in der
Weitere Kostenlose Bücher