Rosendorn
Ich nahm an, dass dieses Essen ebenfalls aus seiner Bäckerei stammte.
Als er das Tablett wieder mitnahm, schlug er noch einmal vor, dass ich mich hinlegen solle. Ich schlief fast im Stehen ein, war allerdings noch immer zu stur, um zu tun, was er sagte. Um zu beweisen, dass ich seinen Ratschlag
nicht
befolgen wollte, begann ich, meine Stimme mit einigen Vokalisen aufzuwärmen. Dann übte ich die Lieder, an denen ich mit meiner Gesangslehrerin gearbeitet hatte, ehe ich mit der Absicht, die sprichwörtlichen Kirschen in Nachbars Garten zu finden, von zu Hause weggerannt war. Ich nahm an, dass Lachlan durch die dicke Tür hindurch zuhörte, also stellte ich mich mental darauf ein, nur für ihn zu singen. Vielleicht würde sein Herz angesichts der Schönheit meiner Stimme dahinschmelzen, und er würde mich freilassen.
Ja, genau. Wer’s glaubt, wird selig.
Eine Zeitlang gab ich mich einfach der Musik hin und verlor mich darin. Die Lieder strömten durch meinen Körper. Während ich sang, vergaß ich beinahe, dass mein Vater im Gefängnis war und meine Tante Grace mich »zu meinem eigenen Besten« eingesperrt hatte. Ich schloss die Augen und ließ mich von der Musik in eine andere Welt entführen.
Irgendwann spürte ich ein seltsames Brennen auf meiner Brust. Unerklärlicherweise war der Anhänger an meiner Kette sehr warm geworden. Es fühlte sich fast an, als hätte ich ihn eine Weile ins Feuer gehalten. Ich nahm die Kette ab und untersuchte die Kamee. Irgendwie musste ich doch herausfinden, warum sie heiß geworden war. Aber sobald ich sie abgenommen hatte, kühlte sie so schnell ab, dass ich mich fragte, ob ich mir das alles vielleicht nur eingebildet hatte.
Als ich aufgehört hatte zu singen, merkte ich wieder die bleierne Müdigkeit. Meine Augenlider fühlten sich tonnenschwer an. Da ich Lachlan meinen Standpunkt bestimmt unmissverständlich klargemacht hatte, beschloss ich, dass es jetzt an der Zeit war, mich geschlagen zu geben.
Ich konnte mir nicht vorstellen, unter diesen Umständen meinen Schlafanzug anzuziehen, also zog ich einfach nur meine Schuhe und Socken aus und tauschte meine Jeans gegen eine lässige, ausgeleierte Trainingshose. Dann kletterte ich in das schmale, aber ziemlich gemütliche Bett. Es war bereits dunkel, und ich schaltete die Deckenleuchte aus, doch es war zu kalt, um auch den Ofen auszumachen. Während ich in die stummen, flackernden Flammen starrte, schlief ich ein.
Es war noch immer dunkel, als ich vollkommen verwirrt aufwachte. Zuerst wusste ich überhaupt nicht, wo ich war, aber die Erinnerung kehrte bald zurück. Mein Kopf fühlte sich dumpf und schwer an, und alles um mich herum kam mir unwirklich vor. Ich warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es zwei Uhr morgens war. Ich drehte mich auf die andere Seite, sicher, dass ich gleich wieder einschlafen würde, doch da hörte ich Schritte vor meiner Tür.
Erst jetzt wurde mir klar, dass ich von einem dumpfen Geräusch geweckt worden war. Im ersten Moment hatte ich geglaubt zu träumen, aber als ich das Knirschen des Holzbalkens wahrnahm, der weggeschoben wurde, war ich mir sicher, dass es kein Traum gewesen war.
Schnell setzte ich mich auf und versuchte, mich aus der verhedderten Decke zu befreien. Möglicherweise hatte ich unbewusst noch mehr gehört, oder es war einfach eine Vorahnung, doch irgendwie wusste ich, dass es nicht Lachlan war, der da gerade die Tür öffnete. Sekunden später bestätigte sich meine Befürchtung, als ein Mann die Tür aufzog und in meine Zelle kam.
Ich gab meinen Kampf mit der störrischen Bettdecke auf und starrte den Besucher mit offenem Mund an. In der Tür stand der tollste Typ, den ich je gesehen hatte. Er war groß – obwohl er neben Lachlan vermutlich wie ein Zwerg wirkte – und schlank. Sein langes blondes Haar hing ihm wie ein Umhang über die Schultern. Im flackernden Feuerschein des Ofens war es zu dunkel, um seine Augenfarbe zu erkennen. Ich konnte nur sehen, dass seine Augen hell waren und diese für Feen so typische Schrägstellung hatten. Wahrscheinlich wäre er zu perfekt gewesen, um echt toll zu sein, wenn da nicht seine leicht unebene Nase gewesen wäre, die so aussah, als wäre sie schon mindestens einmal gebrochen gewesen.
Er schien jünger zu sein als die meisten Feen, die ich bisher gesehen hatte, obwohl er sicher älter war als ich. Ich fragte mich, ob er nur so jung aussah oder ob er tatsächlich eine jugendliche Fee war. Ich ging davon aus, dass es
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