Rosendorn
Gewissen zu haben. Sehr wenige Leute, die nicht in Avalon wohnen oder zumindest sehr viel Zeit hier verbringen, wissen viel darüber. Und was sie zu wissen glauben, ist meistens falsch. Du weißt aber, dass die Menschen und die Feen in der Vergangenheit ziemlich verbittert um Avalon gekämpft haben.«
Ich nickte. Avalon war das heißbegehrteste und am heftigsten umkämpfte Stück Land der Welt. Es schlug selbst Jerusalem. Doch seit über hundert Jahren herrschte Frieden in Avalon – seit die Stadt ihre Unabhängigkeit von Großbritannien
und
von Faerie erklärt hatte. Die Stadt war nun ein eigener souveräner Staat, auch wenn sie mitten in England lag. Es war so ähnlich wie bei Vatikanstadt.
»Avalon wird von der sogenannten Ratsversammlung regiert«, fuhr Ethan fort. »Diese hat zwölf Mitglieder: sechs Menschen und sechs Feen. Die Menschen werden demokratisch gewählt, die Feen nicht ganz so.« Bevor ich nachfragen konnte, sprach er schon weiter. »Es gibt ein dreizehntes Mitglied der Ratsversammlung, das die Macht hat, ein Unentschieden abzuwenden, wenn die Versammlung über irgendetwas abstimmt. Dieses Mitglied ist der Konsul, und er oder sie wird von der Versammlung berufen. Alle zehn Jahre wechselt die Konsulswürde zwischen Feen und Menschen, so dass keine der Gruppen zu lange die Mehrheit hat. Der aktuelle menschliche Konsul muss in gut einem Jahr von einer Fee abgelöst werden.« Seine Miene wurde bitter. »Du hast dir wahrscheinlich den schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, um deinem Vater einen Besuch abzustatten. Denn gerade jetzt kommen die Kandidaten hervorgekrochen.«
»Okay, so faszinierend diese Lektion in Gemeinschaftskunde und Politik auch ist – was mich wirklich interessiert, ist die Frage, was
ich
mit der ganzen Sache zu tun habe«, entgegnete ich.
»Vielleicht nichts«, erwiderte er, und ich fürchte, mir sackte wieder die Kinnlade runter, so dass ich wie ein Vollidiot aussah. »Wir müssen bis Sonnenaufgang warten, um es herauszufinden. Ich kann dir das im Augenblick nicht näher erklären. Es gibt einen … äh … Test, den du machen musst, wenn es wieder hell ist. Das wird uns dann zeigen, ob du
tatsächlich
eine Rolle spielst oder nur in den ehrgeizigen Träumen deiner Familie.«
Ich stotterte und wollte eine möglichst intelligente Frage stellen, während sich in meinem Kopf die Gedanken überschlugen.
»Ich weiß, dass das alles ziemlich ungenau ist«, gab Ethan zu. »Aber ich will dich jetzt nicht beeinflussen und damit den morgigen Test verfälschen.«
»Was ist das für ein Test?«, brachte ich schließlich heraus. Meine Stimme klang erstickt.
Beruhigend berührte er meinen Arm. »Nichts, wovor du Angst haben müsstest. Das verspreche ich dir.«
Das sollte doch wohl ich entscheiden! »Und nachdem ich diesen Test gemacht habe, kann ich gehen, wohin ich will?«
Er runzelte die Stirn und wirkte fast so, als würde er schmollen. »Du kannst
jetzt
schon gehen, wohin du willst, wenn das dein Wunsch ist. Hast du denn einen sicheren Unterschlupf?«
Seine Frage klang, als wüsste er schon, dass die Antwort nein lautete.
»Weißt du, ob mein Vater tatsächlich im Gefängnis ist?«, fragte ich statt einer Antwort.
Ethan nickte. »Wenn jemand seines Standes verhaftet wird, sind das schon große Neuigkeiten. Soweit ich gehört habe, ist es nicht mehr als eine Formalität – auch wenn seine Feinde ihr Bestes tun, um alles zu verlangsamen.«
Ich schluckte schwer. Falls mein Dad nicht so schnell wie möglich aus dem Gefängnis kam, war ich ernsthaft in Schwierigkeiten. Noch mehr als ohnehin schon.
Ethan streckte den Arm aus und ergriff meine Hand. Mit dem Daumen streichelte er über meinen Handrücken. Die Berührung versetzte mir einen kleinen elektrischen Schlag. »Keine Angst«, sagte er. »Bei Kimber und mir bist du in Sicherheit.«
Zweifelnd hob ich eine Augenbraue, obwohl mein Herz bei dem Gefühl seiner Hand auf meiner schneller schlug. Vielleicht war diese Berührung keine große Sache – für
mich
allerdings schon. Jungs zu daten gehörte für die meisten Mädchen meines Alters einfach dazu, aber zwischen der Schule und dem Haushalt, den meine Mutter meist nicht führen konnte, weil sie zu alkoholisiert war, blieb mir nicht gerade viel Freizeit. Das einzige Date, zu dem ich mich hatte überreden lassen, hatte in einer Katastrophe geendet, als meine Mom betrunken die Treppe heruntergestürzt war. Ich hatte mit ihr in die Notaufnahme fahren müssen, als ich mich
Weitere Kostenlose Bücher