Rosenfolter
wie Särge, dachte
Katinka. Moderne Särge.
Sie war kaum eine
gute Stunde hier und musste weitere sieben durchhalten. Plötzlich erschien ihr die
Zeit wie ein massiges Monstrum. Ihr Gehirn sehnte sich nach Aktivität. Sie sah wieder
aus dem Fenster. Eine Schülergruppe betrat das Theaterfoyer. Jemand versuchte, seine
Vespa zum Anspringen zu überreden. Mit einem Mal spürte sie Özlems Blick in ihrem
Rücken.
»Stimmt was nicht?«,
fragte Özlem alarmiert.
Katinka wandte
sich um. »Alles ruhig draußen.« Sie hätte sich gern unterhalten, um die Langeweile
in Schach zu halten, die sie in absehbarer Zeit einschläfern würde. Aber Özlem wirkte
erneut ziemlich abweisend. Therapeutische Gespräche konnten Katinka gestohlen bleiben.
Sie war für die Bewachung der Schutzperson zuständig, nicht für ihr Seelenheil.
Sabine simste eine
Stunde später zurück. ›Check E-Mails.‹
Katinka steckte
ihr Handy in die Jeanstasche. Vorsicht jetzt. Ihr entging nicht, dass Özlem plötzlich
hellwach war und Katinka aus den Augenwinkeln beobachtete. Sie hat wegen irgendetwas
Verdacht geschöpft, dachte Katinka. Wie ich.
Sie ging ins Bad
und wusch sich die Hände. Wenigstens war die neuerliche Schweißwelle abgeebbt. Katinka
musterte ihr Gesicht. Es sah aus wie immer. Vielleicht ein wenig müde. Aber keineswegs
zu blass oder gar krank. Sie trat zurück ins Zimmer und setzte sich an den Tisch.
Dann öffnete sie ihre Mails auf dem iPad.
Es gab in Bamberg
sage und schreibe drei Frauen mit dem Namen Özlem Canavar. Aber zwei waren über
60. Katinka klickte das dritte Dokument an und sah in das Konterfei ihrer Klientin.
Sabine hatte die Richtige gefunden.
Rasch überflog
sie die mitgelieferten Informationen. Özlem hatte Schulden und bereits ein privates
Insolvenzverfahren hinter sich. Sie war als arbeitslos registriert und lebte bei
ihrer Mutter in Gaustadt, in der Wohnanlage gegenüber der ERBA-Insel und damit in
unmittelbarer Nähe des Gartenschaugeländes. Es gab eine Schwester namens Hayat.
Sie war verheiratet und führte anscheinend ein angepasstes Leben. Jedenfalls ohne
Schulden.
Katinka klickte
die Mails weg. Das musste sie erst mal verdauen.
Özlem lief also
nicht vor ihren Brüdern weg. Sie hatte nämlich gar keine Brüder. Sie hatte sich
eine Geschichte zurechtgezimmert, die in die Zeit passte, weil ständig von misslungener
Integration, kulturellen Abgründen und gewaltbereiten Ausländern salbadert wurde.
Die Wirklichkeit spiegelte sich in den schrillsten Verzerrungen.
Katinka öffnete
ihre Fotodateien, wo sie die Bilder ihres Traumobjektes gespeichert hatte. Sie hatte
noch knapp sechs Stunden Zeit, um Özlem aus der Reserve zu locken. Denn dass die
Frau Angst hatte, stand außer Zweifel. Jedoch nicht vor einem familiären Lynchmord.
Im Zusammenspiel mit ihren Schulden ergab sich ein neues Bild. Menschen hatten Ohren,
Finger und Hände eingebüßt. Vielleicht rechnete Özlem damit, die Nächste zu sein?
Und warum war sie mit so einer banalen Lüge an Katinka herangetreten? Warum konnte
sie nicht die Wahrheit sagen? Eine Privatdetektivin war nicht die Polizei, wo man
zwangsweise weitere Fragen gestellt hätte. Für Özlems Sicherheit allerdings konnte
es durchaus einen Unterschied machen, ob Özlem von religiös eifernden Brüdern oder
professionellen Gangstern verfolgt wurde.
»Wollen Sie vielleicht
ein paar Fotos sehen?«, begann Katinka.
»Ihr eventuelles
Haus?«, fragte Özlem, während sie weiter gebannt auf den Bildschirm starrte. »Wie
finanzieren Sie es? Mit einem Kredit?«
Katinka grinste.
Sie konnte sich nicht im Traum vorstellen, dass eine Bank einer Privatdetektivin
einen Kredit zu erträglichen Konditionen einräumte.
»Ich habe was gespart.«
Özlem erwiderte
nichts. Sie glotzte unbewegt auf den Bildschirm. Ohne zu sehen, was sich dort abspielte.
Als brauchte ihr Stoffwechsel die bewegten Bilder, um nicht gänzlich abzuschalten.
»Haben Sie Hunger?«,
fragte Katinka.
»Nein.«
»Ich könnte die
Rezeption bitten …«
»Nein, danke!«
Die Antwort kam schroff. Özlem fing wieder an zu zappen, rief Fetzen von blödsinnigen
Filmen auf die Mattscheibe, einen nach dem anderen.
»Stoppen Sie mal
bei Oberfranken TV. Vielleicht bringen die noch was über die Landesgartenschau.«
Lustlos drückte
Özlem ein paar Tasten.
Das Laufband am
unteren Bildschirmrand informierte die Zuschauer, dass sie direkt in eine Sondersendung
zum Mord an Anwalt Walters und den neuen Entwicklungen in dem Fall geraten
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