Rosenherz-berbKopie
dem Gang gesehen hatte.
Er steckte den Stecker in die Dose und wartete, bis das Gerät
aufgeheizt hatte.
Als
er zurückkam, hatte er zwei Plastikbecher mit Kaffee in der Hand,
von denen er einen neben Morell auf den Tisch stellte.
Morell
klappte die Akte zu, nahm den Becher und hielt ihn mit abgespreiztem
Finger in der Hand. Dann roch er daran: «Was ist das?»
«Was
ist das, was ist das? Kaffee! Für dich!», sagte Marthaler.
Morell
nippte an dem Getränk und verzog das Gesicht. «Scheußliche Brühe»,
sagte er.
«Mensch,
Morchel, du bist ein riesengroßer, ignoranter Esel. Weißt du das?
Und jetzt rede, bitte! Was ist mit der Vermisstenmeldung?»
Morell
lehnte sich zurück und gähnte. «Also: Am 30. April 1989 ist die
Tochter von Hannelore Wilke, damals wohnhaft in der
Gerhart-Hauptmann-Straße 43 a, aufs Revier gekommen, um ihre
Mutter als vermisst zu melden. Sie gab an,
Hannelore
Wilke sei zwei Abende zuvor, also am 28. April, mit dem Wagen in die
Stadt gefahren, wo sie sich mit einem Mann verabredet hatte.
Seitdem sei sie nicht mehr aufgetaucht. Auf mehrmaliges
Nachfragen gab die Tochter zu, dass ihre Mutter weiterhin als
Prostituierte gearbeitet habe.»
«Was
wahrscheinlich heißt, dass man erst mal gar nichts unternommen
hat?», fragte Marthaler.
«So
ist es!», sagte Morell. «Nach einer verschwundenen Hure sucht die
Polizei im Normalfall genauso eifrig wie nach einem gestohlenen
Fahrrad.»
Er
wartete, dass sein Kollege den gelungenen Vergleich würdigte, aber
Marthaler forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, weiterzuerzählen.
«Drei
Wochen später beklagte sich ein Bauer aus Rumpenheim über
einen Wagen, der seit einiger Zeit auf einem seiner Feldwege in der
Nähe des Schultheisweihers stand. Es stellte sich heraus, dass es
sich um das Auto von Hannelore Wilke handelte. Die Kollegen haben den
Wagen abschleppen lassen, haben ihn sich angeschaut, aber nichts
gefunden, was auf ein Verbrechen hindeutete.»
«Also
hat man weiter stillgehalten?»
«So
ist es! Schließlich hat die Tochter der Vermissten die Initiative
ergriffen. Sie hat ein DIN-A 4 -Blatt
mit dem Foto ihrer Mutter kopiert - so, wie es Kinder machen, denen
die Katze entlaufen ist -, hat es an Bäume und Bushaltestellen
befestigt, ist wochenlang durch Bürgel und Rumpenheim gestreift
und hat nach Zeugen gesucht.»
«Alles
vergeblich», vermutete Marthaler, der an einem der Karteischränke
stand, die Arme aufgestützt hatte und eifrig in sein Notizbuch
kritzelte.
«Nicht
ganz», erwiderte Morell. «Tatsächlich hat sie zwei Leute
aufgetrieben, die übereinstimmend aussagten, Hannelore Wilke am
Abend des 28. April am südlichen Ufer des
Schultheisweihers
gesehen zu haben. Beide gaben an, die Vermisste sei alleine gewesen,
habe aber offensichtlich auf jemanden gewartet.»
«Und
was ist der Schultheisweiher?», fragte Marthaler.
«Ein
Kleinod, mein Lieber», sagte Morell und reckte sein Doppelkinn. «Ich
war letzte Woche zum ersten Mal dort. Ein Baggersee im Mainbogen.
Abseits der Stadt und wunderschön gelegen. Früher hat man Kies
auf dem Gelände abgebaut. Seit den achtziger Jahren ist dort ein
Naherholungs- und Naturschutzgebiet. Es gibt einen Sandstrand und
Liegewiesen. Manchmal darf man baden, manchmal auch nicht. Und in den
gesperrten Gebieten gibt es viele seltene Vögel: Haubentaucher,
verschiedene Reiherarten, Wasserrallen, Schnatterenten ...»
Marthaler,
der sich erst jetzt an Morells Faible für Naturkunde erinnerte,
wehrte ab: «Lass gut sein, Konny. Bevor du mir jetzt noch
Einzelheiten über das Brutverhalten erläuterst, erzähl mir lieber,
was aus Hannelore Wilke wurde.»
«Nichts
wurde aus ihr. Man hat eine Streife an den Schultheisweiher
geschickt. Die Kollegen haben sich die Stelle angesehen, wo die Frau
von den beiden Zeugen angeblich das letzte Mal gesehen wurde. Man hat
nichts Verdächtiges entdeckt... na ja ... und irgendwann wurde die
Suche eingestellt.»
Marthaler
schüttelte ungläubig den Kopf: «Du bist sehr nachsichtig mit
deinen Vorgängern. Die Wahrheit ist: Nach der Frau ist niemals
wirklich gesucht worden. Hannelore Wilke ist möglicherweise einem
Verbrechen zum Opfer gefallen, aber niemand hat in dem Fall je
ermittelt.»
Morell
hob die Arme und ließ sie nach drei langen Sekunden wieder
sinken: «Aber mir willst du deshalb hoffentlich keine Vorwürfe
machen, oder?»
«Können
wir rausfahren zu diesem See?»
«Gerne!
Hab ich dich neugierig gemacht? Wie wäre es mit nächstem Sonntag?
Das Wetter
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