Rosenherz-berbKopie
jungen Frau zu, die gerade dabei war, die Tür des
Archivs von außen zu verschließen. Sie war schlank, hatte lange
blonde Haare und trug eine enge Jeans. Morell und Marthaler
wechselten einen raschen Blick.
Die
Frau reagierte nicht; sie schien die Männer nicht einmal zu
bemerken, die sich ihr jetzt durch den hell erleuchteten
Kellergang näherten. Als die beiden direkt hinter ihr standen, fuhr
sie erschrocken herum.
«Entschuldigen
Sie», sagte Morell, «Sie waren wohl so in Gedanken, dass Sie uns
nicht gehört haben.»
Die
Frau starrte Morell an. Sie schaute ihm auf den Mund. «Nein, ich
kann Sie nicht hören, ich bin taub.»
Morell
senkte vor Verlegenheit den Kopf. «Wir müssen nochmal ins Archiv»,
nuschelte er, «tut mir leid, wenn wir Ihnen Umstände machen.»
Die
junge Frau lächelte: «Sie müssen mich anschauen und deutlich
sprechen, damit ich Sie verstehe», sagte sie.
Morell
wiederholte seine Bitte.
«Sie
sind Konrad Morell, nicht wahr? Mein Vater war Dozent auf der
Polizeischule; er erzählte, dass Sie eines seiner Seminare besucht
haben. Kann es sein, dass man Sie Morchel genannt hat?»
Morell
wurde blass, sein Mund stand offen. Marthaler drehte sich weg und
legte eine Hand vor den Mund. Er hatte Mühe, nicht laut
loszuprusten.
Die
Archivarin hielt Morell den Schlüssel hin. «Schließen Sie
einfach zu, wenn Sie fertig sind, und geben Sie den Schlüssel beim
Pförtner ab.»
Offensichtlich
schien es ihr zu gefallen, dass sie die Männer, jeden auf seine
Weise, aus der Fassung gebracht hatte. Sie schenkte beiden ein
strahlendes Lächeln, wünschte ihnen einen schönen Abend und war
wenige Sekunden später bereits verschwunden.
«Sehr
charmant», sagte Marthaler, «findest du nicht auch?»
Morell
verdrehte die Augen. Er schloss das Archiv auf und schaltete die
Deckenbeleuchtung ein.
Sie
brauchten zehn Minuten, bis sie sich zwischen all den Aktenschränken
und Regalen zurechtgefunden hatten. Sie teilten die Karteikästen
nach Jahrgängen auf, setzten sich nebeneinander an einen Tisch
und begannen die Karten durchzusehen.
Sie
arbeiteten wortlos und konzentriert. Nach einer Dreiviertelstunde
wurde Marthaler fündig. «Hier», sagte er. «Margarete Hielscher.
Das muss sie sein. Ein Verweis auf einen Vorgang im Jahr 1982.
Anzeige wegen illegaler Wohnungsprostitution .»
Er
schrieb das Aktenzeichen auf einen Zettel und schob ihn auf Morells
Seite des Tisches. «Hast du eine Ahnung, wo sich diese Unterlagen
befinden?»
Morell
schnaufte. «Ich kenn mich hier genauso gut aus wie du», sagte er.
«Nämlich gar nicht.»
Trotzdem
nahm er den Zettel, stand auf und verschwand zwischen den Regalen.
Kurz darauf kam er mit einer dünnen Mappe wieder. Er hatte sie
aufgeschlagen und blätterte darin: «Ihr Vermieter hat sie
angezeigt, ihr gleichzeitig die Wohnung gekündigt und das Türschloss
ausgewechselt. Von einem Verfahren hat man unter der Bedingung
abgesehen, dass sie der Kündigung nicht widerspricht. Sie erklärte
sich einverstanden, da sie bereits eine neue Unterkunft hatte. Als
künftige Adresse gab sie Marktplatz 10 an.»
«Gut»,
sagte Marthaler. «Das ist immerhin ein Ansatz. Suchen wir
weiter!»
Morell
gähnte: «Und wie lange noch?»
«Ich
weiß nicht. Mach einfach weiter! Bitte! Noch eine halbe Stunde.»
Morell
stöhnte. Er setzte sich wieder vor seinen Karteikasten, stützte
den Kopf in die rechte Hand und blätterte mit der linken. Alle fünf
Minuten schaute er auf die Uhr. Plötzlich hielt er inne und
schnipste mit den Fingern vor Marthalers Gesicht: «Treffer!», sagte
er. «Hier haben wir die andere Dame. Hannelore Wilke. Eine
Vermisstenmeldung aus dem Jahr 1989.»
«Eine
Vermisstenmeldung?»
Morell
war bereits wieder im hinteren Teil des Archivs verschwunden. Die
Akte, die er diesmal zutage förderte, war umfangreicher als jene
über Margarete Hielscher. Er legte sie auf den Tisch, setzte sich
und begann zu lesen.
«Was
ist?», fragte Marthaler ungeduldig.
Der
andere hob die Hand: «Warte!»
Schließlich
stand Marthaler auf und postierte sich seitlich hinter seinem
Kollegen.
Morell
drehte sich um und fuhr Marthaler an: «Wenn du selbst lesen willst,
bitte! Wenn nicht, setz dich wieder auf deinen Platz und warte, was
ich dir zu sagen habe. Aber schau mir nicht über die Schulter! Das
kann ich ungefähr so gut ertragen wie Löcher in den Strümpfen!»
Marthaler
suchte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Er verließ das Archiv
und ging zu dem Kaffeeautomaten, den er auf
Weitere Kostenlose Bücher