Rosenpsychosen
das reflexartig zu einem Sprung ansetzte, jedoch, als es festgehalten wurde, nachgab.
»Spaß ist gut. Spaß ist relativ und individuell. Selbstbetrug ist nicht gut. Sie verlieren noch viel mehr, nämlich sich selbst, wenn Sie nicht in dieser einen Sache aufrichtig sich selbst gegenüber werden.«
Marie maß mit den Augen die Maserung der Tischplatte. »Eine schöne Kombination, oder? Das ist Walnuss. Die Spiegelmosaiken dazu – ganz schick, oder? Jedenfalls für einenRussen. Meinen Sie, Ihr Herr Kinderretter hat das selbst ausgesucht? Ihres guten Geschmacks wegen fallen die Russen doch eher selten auf. Nein, hat er nicht. Auf keinen Fall. Wir könnten ihn ja mal fragen. Was lesen Sie eigentlich gerade?«
Helene zog ihre Hand zurück und setzte ihr Psychotherapeutenlächeln auf – ein schwach ausgebildetes Lächeln, eher mit den Augen als mit dem Mund, irgendwo angesiedelt zwischen potenzieller Vertrautheit, Ernst und wohlmeinender Überlegenheit. Das sollte genügen, für heute allemal, dachte Helene.
»Oh, das wird Sie freuen: Ich lese gerade ›Ein Lesebuch mit Bildern‹ von Alice Schwarzer und Simone de Beauvoir.«
»Ach du heilige Scheiße, pardon, hört sich nach einer Lose-Lose-Situation an, ich lach mich schlapp!«
»Sage ich doch: Das freut Sie. Und Sie? Was lesen Sie im Moment?«
Maries eben noch leicht boshaftes, gleichwohl gewinnendes Lachen verwandelte sich in ein fadenscheiniges Ertappt-Grinsen.
Notlügen waren doch wohl erlaubt und gesellschaftlich sanktioniert, überlegte Marie. Um Zeit zu gewinnen, nahm sie einen veritablen Schluck Kir und zündete sich ein Zigarillo an. Durch den abschirmenden Rauch hindurch musterte sie Helene und schenkte ihr ein berauschtes Lächeln, und auch diese nutzte offenbar die Sicherheit des Nebels zwischen ihren Gesichtern, um es wärmstens zu erwidern. Na gut, dachte Marie, warum nicht die Wahrheit, halb drei ist wohl eine akzeptable Zeit dafür, in vino veritas, haha.
»Also. Heute habe ich die Seiten 29 bis 15 aus ›Das Schweigen des Meeres‹ gelesen, gestern die Seiten 35 bis 9 von ›Ich und Kaminski‹, womit es dann ausgelesen wäre, weil es nämlicherst auf Seite 9 beginnt, vorgestern die Kapitel 35 bis 31 aus ›Don Quijote‹, ein super Riemen übrigens, am Tag davor das letzte Kapitel von ›Jenny Treibel‹, am Tag davor ein Mode-Special über die sogenannte Stil-Ikone Lady Di, nachmittags im ›Pschyrembel‹ über Dipsomanie und Vitamin K, das ja seltsamerweise völlig unter- und gleichzeitig überschätzt wird, und davor im Tierlexikon was über Grottenolme, die – wussten Sie das überhaupt? – neoten sind, weil eine vollständige Metamorphose überhaupt nichts bringen würde, und am Tag davor habe ich mir nur die Zeichnungen im ›Sekondeleutnant Saber‹ angesehen. – Gar nichts! Also die Metamorphose, gar nichts würde die bringen für die Grottenolme, und deswegen verzichten sie schlichtweg darauf. Manchmal glaube ich, mich auch ewig im Larvenstadium zu befinden. Wäre ja eine elegante Erkenntnis, muss ich sagen. Das müssten Sie doch jetzt bestätigen. Ich meine, nicht nur ich – stellen Sie sich mal vor, wir alle wären Larven. Auf einen Schlag könnten sämtliche Klapsmühlen dichtmachen. Wer schickt schon Larven zur Psychoanalyse oder in die Klapper? Na, egal. Morgen will ich das vorletzte ›Treibel‹-Kapitel lesen. Wissen Sie eigentlich, nach wem der Cocktail ›Bloody Mary‹ benannt wurde? Und sagen Sie jetzt nicht: Mary Stuart. Damit lägen Sie vollkommen falsch.«
»Sie lesen also mit Unterbrechungen? Jeden Tag ein bisschen aus einem anderen Buch, und dann rückwärts?«
»Ja. Warum nicht? So weiß man, wenn man vorne ist, doch bereits, was einen zum Schluss erwartet! Oft ist es auch viel weniger traurig, mit dem Beginn eines Buches das Buch ausgelesen zu haben, zum Beispiel bei ›Effi Briest‹ oder der Biografie von Marie Antoinette. Überlegen Sie mal, Sie werden als Leser fast immer in eine heile Welt entlassen. Und außerdem fallen Sie nicht in diese verdammte Leere, die ein ausgelesenes Buch immer hinterlässt, weil diese markverzehrendeGeste Letzte-Seite-Buch-zu ja wegfällt. Wissen Sie, was ich meine? Oder sind Sie da auch immer ganz gelassen, wenn zum Beispiel Effi Briest mit nicht einmal dreißig … oder Gabriel Bagradian da auf dem Berg hockt – wenn ich daran nur denke. Ich sag Ihnen, die Art, wie die meisten Leute lesen, ist total unmenschlich, masochistisch! Davon abgesehen, dass das ja jeder kann, so
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