Rosenpsychosen
brennen, dann rufst du einfach an.«
Marie saß mit verschränkten Armen da und nickte, darüber nachsinnend, wie sie hier als Gewinnerin hervorgehen könnte, bei jedem neuen Satz heftig und vorwurfsvoll mit dem Kopf. »Dein ganzes Verständnis war nur geheuchelt. Du bist ein Schlappschwanz, weißt du! Ja, mach mal Pause! Du kannst sie auf zehn Jahre verlängern! Auf zwanzig! Dich brauche ich überhaupt nicht. Ich werde sehr gut ohne dich zurechtkommen. Hau bloß ab – am besten sofort! Du nervst mich schon lange, ich kann dich nicht mehr sehen! Und schlaf schön in der Oper!«
»Hey, jetzt bleib auf dem Teppich, okay?«
»Ich bin auf dem Teppich! Und viel Spaß beim Kuscheln, du Weichspüler!« Damit wandte Marie sich brüsk ab und ging hinein. Sie sah, um sich zu vergewissern, dass sie eine fürsorgliche Mutter war, zähneklappernd nach den Kindern, die sehr friedlich schliefen, und steuerte anschließend das Bad an.
Bedächtig legte sie Ohrringe, Ringe und ihre Kette ab, brachte alles sorgsam an den vorgesehenen Plätzen in ihrem Schmuckkasten unter, verschloss das Behältnis und ging damit hinaus zu den Mülltonnen. Auf Wiedersehen, rief sie der Schatulle noch hinterher und fiel eine Viertelstunde später in tiefen Schlaf.
Im Gegensatz zu Helene, die nicht schnell genug unter die kalte Dusche kommen konnte, von der sie sich wieder einen klaren Kopf und Linderung erhoffte, optimalerweise sogar einen Rückzug der Pustelnarmada. In ihrem Kopf spielten Gut und Böse einvernehmlich Pingpong, indem sie sich die Bälle nicht entgegenschmetterten, sondern sie sich vielmehr höflich darboten, ohne den Ehrgeiz, den anderen zu besiegen.
Sie befragte sich nach der Richtigkeit ihres nächtlichen Ausfluges mit all seinen Sequenzen. Der Brief an Olaf – einebenso feiger wie selbstverleugnender Akt von ihr, aber doch das, wonach ihr kurz der Sinn gestanden hatte. Die Ansprache an Herrn von W. – ungewohnt und anmaßend vorlaut, außerdem sinnlos, ein Tropfen auf den heißen Stein, obwohl auch geradeheraus und wahrheitsgemäß. Der Gang in die Bar – hochgradig unprofessionell von vorne bis hinten, praktisch verboten und doch ein schönes, ja aufregendes Erlebnis. Alles falsch und doch wieder nicht, hatte doch in der Bar etwas Freundschaftliches in der Luft gelegen. Ja, versuchte sie sich zu beruhigen, dieser Umgang miteinander war der falsche. Aber wie falsch genau? Wirklich so falsch? Wie menschlich durfte sie als Ärztin empfinden? Sie durfte, ja sie musste sogar menschlich empfinden, wollte sie die Menschen verstehen, aber sie musste dabei Distanz wahren. Marie gegenüber war sie jedoch nicht mehr distanziert genug. Sie fing an, sie wirklich zu mögen, interessierte sich für sie, verstand sie auch – nicht als Ärztin, vielmehr als Frau.
Wieso musste das schwerfällige Schicksal ihr Marie auch als Patientin schicken. Sie hätten sich doch irgendwo kennenlernen können – bei einem Konzert, in der Stadt, über die Kinder. Wahrscheinlich hätten sie sich dann keines Blickes gewürdigt. Aber wenn doch: Dann hätten sie so etwas wie Freundinnen oder wenigstens gute Bekannte werden können. Gemeinsamkeiten gab es. Die Musik, die Kinder, auch die Verachtung für Plüschtiere. Helene verstand diese Patientin ganz undistanziert, und es drängte sie mehr und mehr, auch von ihr verstanden zu werden. Ihre Laune besserte sich, wenn sie an Marie dachte, und das musste sich ganz schnell ändern, oder sie würde in Teufels Küche kommen.
Sie kochte sich einen Tee, ging hinüber in die Praxis und beschäftigte sich geistesabwesend mit ihrer Abrechnung, worüber sie nach ein, zwei Zahlendrehern und fünf Minuten am Tisch einnickte.
Am nächsten Morgen, als Marie aufwachte, war Martins Bett leer. Das war an sich nicht ungewöhnlich, denn meistens stand Martin morgens auf und kümmerte sich um die Kinder. Aber heute wusste Marie: Er war bereits weg. Weg, um mit seiner Freundin durch den ›Ring‹ zu springen. Das, dachte Marie, ist Dostojewskijs Seelen- und Geistesfreiheit. Und: Ich liebe ihn, soll er springen. Eine Träne rann ihr in die Ohrmuschel. Sie stand auf, um sich einen Kaffee zu kochen und den Frühstückstisch zu decken.
Auf dem Weg in die Küche fischte sie zielsicher eine CD aus dem Regal. Sie versuchte zu ermitteln, in welchen Müll Mozarts ›Requiem‹ gehörte. Die Antwort lag auf der Hand: wenn überhaupt, dann in den Sondermüll, für den jedoch in ihrer Küche kein Behältnis vorgesehen war. Vielleicht
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