Rosenpsychosen
bei denen sich ihr der Magen umgedreht hatte, war aber bei einem harmlosen zweistündigen Überlandflug ängstlich geworden? Und warum bellte sie den Leuten immer ins Gesicht, beleidigte sie mit einem Wisch, anstatt mit ihnen zu reden, vielleicht länger und ruhiger, geradlinig, selbstbewusst?
Weil sie es nicht war. Aber warum eigentlich nicht? Sie konnte mit etwas mehr Selbstreflexion doch selbstbewusster werden, wenn sie diese Therapiesache richtig verstand, und unter Umständen sogar diese elende Selbstüberschätzung in den Griff bekommen. Und die Wahrheit musste sie sagen, sie durfte nicht mehr alle Leute belügen, nicht mehr heucheln. Schade zwar irgendwie, aber eine Psychiaterin wird schon wissen, was sie sagt, wenn sie einem rät, ehrlich zu sich und anderen zu sein.
Dann war also ihre Angst vor Adam und seiner Schnalle entstanden, weil sie ständig Mitgefühl heuchelte, wo keines war, und äußerlich ungerührt blieb, wenn es sie innerlich zerfetzte. Immer schön dasjenige Gefühl darbieten, das dem jeweiligen Rahmen entspricht – das war ein Großteil desPfeffers, in dem der Hase lag. Eine ausgezeichnete Erkenntnis, dachte Marie, ging zu ihren Büchern und angelte Seneca heraus.
Es dauerte eine ganze Weile – sie las sich fest –, bis sie die Stelle hatte, nach der sie suchte. »… denn mit fremdem Leid sich abzuquälen, ist ewiges Unheil … sowie es eine nutzlose Menschenfreundlichkeit ist, zu weinen, weil irgendeiner seinen Sohn begräbt, und darüber eine Trauermiene anzunehmen … So tief hat sich diese Unsitte, diese Abhängigkeit von fremder Meinung eingewurzelt, dass auch die selbstverständlichste Sache, der Schmerz, der Heuchelei verfällt.« Ausgezeichnete Stelle, fand Marie, man sollte diesen Satz auf Bannern über Beerdigungen flattern lassen, besonders wenn Politiker zugegen waren, um Soldatenwitwen ihr Mitgefühl auszudrücken.
Tjaja, das war es wohl: Marie hatte geheuchelt. Sie war unaufrichtig und zu feige gewesen, ihm zu sagen: Rede mit mir, ich erkläre dir, was ich meine, und du mir. Stattdessen war sie mit dem Baby im Arm gegangen, hatte Adam jählings vor vollendete Tatsachen gestellt, keine Erklärung, nichts. Nur Tränen auf der Autobahn, wo sie längst außer Sichtweite gewesen war.
Drei Wochen später hatte sie eiskalt die Transporteure zu Adam geschickt. Was ihm geblieben war von seinem großen Glück, waren ein paar Steinway-Dellen im Parkett. Dann Pasis leere Babybettchen, eines oben, eines unten, ein leerer Kleiderschrank, der bestimmt immer noch nach Parfüm roch, ein fast leeres Bücherregal und ein beachtlicher monatlicher Dauerauftrag mehr. Er musste ja gelitten haben. War es ein Wunder, dass er sich irgendwann diese dumme Person ausgesucht hatte? Dumm, ordinär, aber wahrscheinlich verlässlich. Hässliches Verlässliches. Adam hatte mit Sicherheit nie Gernhardt gelesen, sondern sich aus einem kleinbürgerlichenSicherheitsbedürfnis heraus instinktiv für Hässliches Verlässliches entschieden. Jawohl, als Verlässlichkeit in Person musste sie sich geriert haben! Weil es ihre ganz große Chance gewesen war aufzusteigen. So eine Chance bekommt man nur einmal im Leben. Liebte sie Adam denn? Und er sie? Das hätte Marie sich gewünscht, um endlich Ruhe zu haben vor ihrem Gewissen. Doch so war es nicht. Diese Frau quälte Adam, auch das sehr verlässlich. Man erfuhr es aus mehreren Quellen, sogar von Adam selbst. Er litt. Verlässlich! Da war keine Liebe, das spürte man selbst in fünfhundert Kilometer Entfernung. Jetzt, da Adam todkrank war, schlug die große Stunde dieses Weibes. Endgültige Macht war in greifbarer Nähe. Und wahrscheinlich würde sie die auch kriegen. Die Heirat hatte sie ihm ja bereits abgeluchst. Wie sollte er jetzt noch eine Hundertachtzig-Grad-Kurve hinbekommen, seine Freunde zurückholen, die allesamt Hausverbot hatten, seit SIE dort wohnte, sein Kind wieder annehmen, seiner Schwester wieder wie einer Schwester begegnen, gegen die Krankheit kämpfen und dieses Weib aus dem Fenster werfen? Er war schwach und würde es nicht mehr schaffen, nicht einmal im Angesicht des Todes.
Wie er wohl jetzt aussah? Marie hatte ihn so lange nicht gesehen. Ob er sehr gezeichnet war von Chemotherapie und Bestrahlung? Er hatte mal ausgesehen wie ein Hollywoodstar. Auf dem Rodeo Drive hatten sich die Mädchen von ihm vorsichtshalber Autogramme geben lassen. Marie hatte amüsiert daneben gestanden. Die hübschesten Frauen hatten sich an ihn herangemacht, aber er
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