Rosenpsychosen
zerbrochen war. Lilie hatte die Arbeit an einer Skulptur ruhen lassen und zusammen mit dem Kind den Pilz repariert. Wirklich hervorragend. Ob er eine Ahnung hatte, wie wichtig er für Marie immer gewesen war, dass er ein Ersatzvater für sie war, wie sehr sie ihn liebte? Lilie hatte damals den Grabstein für Maries Vater hauen wollen. Den Stein hatte er irgendwann auf dem Hof gehabt, aber bis heute, dreiunddreißig Jahre später, hatte er es nicht über sich gebracht, den Namen einzuarbeiten.
Es war etliche Jahre her, dass sie Lilie gesehen hatte. Damals war sie allein dort gewesen, ohne Familie. Zunächst hatte sie im Tiefflug ein paar Runden über dem Hof gedreht und Luftaufnahmen gemacht, was gar nicht ungefährlich gewesen war, da die kleine Cessna keinen Autopiloten gehabt hatte. Lilie hatte gerade ein paar Meisterstudenten auf dem Hof gehabt, um vierzehn Tage lang mit ihnen zu arbeiten. Abends hatte er allein in seiner Werkstatt gesessen, Marie draußen mit einigen Studenten am Feuer. Dann war er herausgetreten und hatte ausgerechnet nach Marie gerufen. Sie solle ihm mal ein Glas Roten bringen, dabei könne er besser arbeiten. Und als sie es ihm gebracht hatte, da hatte er gesagt, sie möge sich doch setzen und ihm ein bisschen Gesellschaft leisten. Dabei hatte er sie mit seinen freundlichen dunklen Marderaugen angesehen und erwähnt, sie sehe haargenau aus wie ihre Mutter früher. Und ihre Mutter habe ihm übrigens damals Modell gesessen, als sie alle noch studiertenund Marlene sich Geld verdienen wollte. Maries Vater war ja selbst noch Student gewesen und hatte – wie alle – kein Geld gehabt. Aber das Leben begossen hatten sie trotzdem, praktisch jede Nacht … Marie wusste noch, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle gebildet hatte, sie mit etwas herausrücken wollte, es aber nicht konnte.
In den Sommerferien also, jawohl, würde sie ihn zusammen mit Brütti, Pasi und Martin, der bis dahin hoffentlich den ›Ring‹ gesehen hatte, besuchen, das war jetzt beschlossen. Sie mussten ihn endlich kennenlernen, und sie wollte ihn sehen, leibhaftig. Viel zu selten besuchte sie ihn, weil sie Angst hatte vor diesen Tantalusqualen, auch vor dem Neid auf seine Familie, die einen solchen Mann in ihrer Mitte hatte. Marie wollte sterben, am liebsten gleich hier im Sessel. Aber sie war zu jung dazu und hatte außerdem die geeignete Begleitmusik zerbrochen.
Auf einmal stand Pasi in der Tür, behängt und beringt mit Perlen, Diamanten und Aquamarinen. »Mama, Oma sagt, Wildschweine müssen nachts die Mülltonnen umgeworfen haben. Und weißt du, was da lag?«
Sie bot einen unglaublich süßen, herzerwärmenden Anblick, den Marie, obwohl sie nicht abergläubisch war, als Aufforderung nahm, ihren Schmuck wieder einzusammeln. Ihre Mutter half ihr dabei, ohne mit der Wimper zu zucken oder gar eine Frage zu stellen.
20
Marie möchte nicht zum Kotzen werden, verhilft Herrn
Herzog zu seinem Glück, säuft nicht und stellt trotzdem
fest, dass Vögel nicht glücklich zu nennen sind
Die letzte Schul- und für Helene die letzte Arbeitswoche vor den Sommerferien war angebrochen. Helene hatte für sich und die Jungs eine dreiwöchige Last-Minute-Reise nach Portugal gebucht. Der Club an der Algarve versprach auf seiner Homepage, über alles zu verfügen, was kleine Jungs und deren Eltern sich wünschten. Wieso sie auf einen Cluburlaub gekommen war, konnte Helene nicht mehr sagen. Sie hasste Aufenthalte in Ferienanlagen. Vielleicht hatte sie genau das gebucht, damit sich der Abstand zu ihrem normalen Leben und zu ihren jüngsten Verstrickungen möglichst groß gestaltete. Sie wollte Abstand zu Marie, an die sie viel zu häufig dachte und deren letzte Sitzung vor den Ferien noch stattzufinden hatte, und zu Olaf, den sie sich mittlerweile regelrecht ersehnte. Abstand zu »Lass Waxxen«.
Es war ein herrlicher Sommertag, der Marie frühmorgens an die Insel hatte denken lassen, auf der sie seit der Trennung von Adam nicht gewesen war. Scheißinsel, dachte sie, eine einzige große Champagnerbar mit Flugplatz, von Wasser umspült, nichts weiter. Das heutige Wetter aber war daran unschuldig, dass sie diese Insel als Scheißinsel in Erinnerung hatte, und sie beschloss, es heute, da sie auf keiner Scheißinsel schöntun musste, gut zu finden.
Wie bestellt, zogen bei 28 Grad im Schatten und leichterBrise allerliebste Altocumuli über das Bürgerfest. Der Mann auf der kleinen, dilettantisch zusammengezimmerten Bühne mochte um die vierzig sein.
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