Rosenpsychosen
Augen. In aller Bescheidenheit folgte er Marie um die Ecke zu dem Objekt seiner Sehnsucht.
Nach zwei Minuten gemeinsamen Smalltalks verabschiedete sich Marie höflich und entschwand mit der problematischen Aufgabenstellung, dieses sonderbar luftige Pfadfindergefühl irgendwo einordnen zu müssen.
Marie schlug die Augen auf und sah auf den Wecker. Fünf Uhr, eindeutig zu früh für alles. Sie war kurz nach Mitternacht im Bett gewesen und hatte abends auf Wein verzichtet. Es tat ihr gut; allmählich merkte sie, dass sich die Katze fortwährend in den Schwanz biss, wenn sie versuchte, Stimmungen mit Wein wegzuschwemmen. Wenn allerdings das Ergebnis ihrer Abstinenz bedeutete, dass sie nun jeden Morgen um diese Stunde aufwachte, holte sie lieber gleich wiederden Korkenzieher aus der Schublade. Heute würde sie zum letzten Mal vor den Sommerferien zur Therapie gehen, und es wurde ihr etwas wehmütig zumute.
Acht Wochen ohne, das war lang. Hatte sie sich nach so kurzer Zeit bereits daran gewöhnt, war diese wöchentliche Psychonummer am Ende doch sinnvoll? Sie war sich nicht sicher. Einerseits konnte man nicht leugnen, dass sie neuerdings im Begriff war, ihr Inneres mit ihrer äußeren Erscheinung halbwegs in Einklang zu bringen, was sicher ein positives Zeichen war. Vielleicht schon ein Ansatz, zu einer gewissen Ruhe zu finden. Dass sie auf das schlechte Gewissen Herrn Herzog gegenüber eine ernsthafte und ziemlich gute Tat hatte folgen lassen, ja, das war etwas Wahrhaftiges, das sie freier gemacht hatte. Ausnahmsweise hatte sie den Fokus nicht auf sich selbst gerichtet, und falls doch – das konnte sie nicht abschließend klären –, dann immerhin mit einem nicht nur für sie guten Ergebnis. Dass es überhaupt zu einem Ergebnis gekommen war, das war im Grunde das entscheidende Novum. Und zum ersten Mal seit etlichen Jahren war sie nicht weit nach Mitternacht betrunken ins Bett gefallen. Rappelte sie sich auf? War sie dabei, sich zu besinnen und ins Leben zurückzukehren, vielmehr einzukehren?
Marie starrte an die Schlafzimmerdecke, vergegenwärtigte sich mit aller Gewalt ihre Erfolge – und war trotzdem traurig. Sie war fast vierzig und lebte seit dreiunddreißig Jahren um diese Sehnsucht herum, oft himmelhochjauchzend, meistens aber dem Wunsch nachhängend, fort von dieser Welt zu sein. Aber fort wohin? An ein Leben nach dem Tod und damit die Erfüllung ihrer einzigen großen Liebe glaubte sie nicht, wenngleich sie darauf zusteuerte, als glaubte sie felsenfest daran. Seelenwanderung? Sehr unwahrscheinlich. Also was war die Alternative? Konnte diese Therapie ihr den ernsthaftenWillen vermitteln, mit der Sonne zu leben und einmal dankbar für alles zu sein, dessen sie sich nach Herzenslust bedienen konnte, wenn sie es nur zuließ? Das wäre das Ideal.
Ja, sie liebte ihre Kinder. Ach, die beiden, sie waren das Größte und Schönste. Aber sie liebte sie so sehr, dass sie wünschte, sie hätte sie nie bekommen. Oft, wenn sie mit Pasi und Brütti zusammen war, lähmte sie die Angst, die beiden könnten ihr genommen werden. Das Schicksal konnte jeden Moment erbarmungslos zuschlagen und einem nehmen, was man am meisten liebte. War es da nicht besser, man bot ihm erst gar keine Angriffsfläche? Aber wie sollten die beiden das jemals verstehen? Mami kann keine Sandburg mit dir bauen, weil sie traurig in deinen zauberhaften Anblick versunken ist, während du allein eine Sandburg baust. Und dich kann sie nicht in den Schlaf streicheln, weil sie Angst hat, du könntest ihr unter den Händen wegsterben, während du schlecht einschläfst, weil dich deine Mutter nicht in den Schlaf streichelt. Es war alles abstrus.
Diese Trauer auf Kosten der anderen sollte ein Ende haben. Das wünschte sich Marie in jenem Moment aufrichtig. Nur ein klein wenig Eigentrauer wollte sie behalten. Würde man sie ihr aber lassen, ihre Resttrauer, nicht versuchen, sie ihr ganz auszutreiben? Würde sie die Fähigkeit einbüßen, zu spielen und damit sich zu schützen, wenn es angebracht war? Wenn sie sich nun – therapeutisch angezeigt – ständig selbst beobachtete und sich um irgendwas bemühte, führte das nicht erst recht zu einer Entstellung der Persönlichkeit? Und würde sie nach erfolgreicher Therapie, wie immer das aussehen mochte, genau wie jene grauenhaft erfolgreich Psychotherapierten herumlaufen, die immer selbstherrlich sagten, was sie gerade dachten? Immer ehrlich, immer ganz bei sich, immer die Mimik auf das Empfinden abgestimmt,
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