Rosenpsychosen
immer dann konkret wird, wenn ich uns beide aufdiesem Kongress sehe. Weißt du, vorhin, auf dem Weg hierher, bin ich einer Frau praktisch vor die Füße gefallen. Ich habe mich kurz zu ihr auf die Bank gesetzt, sie bot mir einen Donut mit Schokoladenüberzug an, und als ich ihn annahm, da sagte sie: ›Männer, die Schokolade essen, sind das Letzte.‹«
»Ach.«
»Sie war eines jener Geschöpfe, die ich leid bin. Sie machen auf großartig und kokett und sind doch so klein und haben Spatzenhirne. Kleistern sich zu, dass man kein Gesicht mehr erkennen kann, sind von oben bis unten rasiert, haben eine Haut wie Kinder, eigentlich doch grauenhaft, sind so dünn, dass sie ins Handschuhfach passen, und wenn sie den Mund aufmachen, möchte man wegrennen. Wobei: Diese Person auf der Bank war gar nicht so ärgerlich, wenigstens war sie nicht blondiert, und volljährig war sie auch längst, aber sie gehörte für mein Gefühl trotzdem in diese Kategorie.«
»Aber hübsch war sie schon, oder?«
»Ja, bestimmt, ich nehme es an. Aber schwierig, anstrengend, vielleicht hohl, auf jeden Fall affektiert, unecht.«
»Vielleicht ist sie echter, als du denkst.«
»Du meinst, sie ist so echt, dass ich sie berufsbedingt schon wieder für unecht halte? Und dich im Umkehrschluss für echt, weil du in Wahrheit so unecht bist? Heli, ich bitte dich! Na, mag sein. Ich habe ihr zu einer Therapie geraten.«
»Gut gemacht.«
»Aber, um mal wieder zum Kern meines Besuches zu kommen: Es spielt auch keine Rolle, was ich nicht mehr will. Eine Rolle spielt, was ich will. Und natürlich, was du willst.«
»Ach, doch?«
»Ich möchte, dass ihr den Sommer mit mir am Bodensee verbringt. Als ich deinen Brief las, wusste ich, dass irgendetwasfaul an ihm war. Deswegen bin ich hier. Du hast die Anrede vergessen. Das ist nicht deine Art. Du vergisst keine Anrede.«
»Oh.« Tatsächlich. Sie hatte sie vor lauter Nachgrübeln darüber vergessen.
»Nun sehe ich allerdings Koffer im Flur. Wollt ihr verreisen?«
»Portugal.«
»Hm. Hast du deine schweren Fälle doch noch schnell in den Griff bekommen. Alle Achtung. Und sag mal, die Jungs, die da draußen Fußball spielen und sich Moritz und Fabian nennen, sind nicht zufällig deine? Also, wenn es deine sind, wovon ich wohl ausgehen kann, denn es werden ja nicht alle Jungs hier Moritz und Fabian heißen, dann habt ihr hervorragende Ärzte hier – von Angina oder einem verstauchten Fuß ist jedenfalls nichts mehr zu sehen. – Du siehst, Helene, es stimmte eben etwas an deinem Brief nicht.«
»Lieber Pierre.«
»Bitte?«
Helene stand auf und ging zum offen stehenden Balkon. Sie knibbelte zwei Fleißige-Lieschen-Blüten ab, drehte sich wieder zu Olaf und begann, die Blüten mit den Fingern zerfleischend, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Ich wollte dich mit ›Lieber Pierre‹ anreden.«
»Aha. Hat dir das dein Psychiater geraten? Guter Mann.« Auch Olaf stand auf.
»Ich wusste nicht, wie ich dich anreden sollte. Wie beginnt man einen Brief, der von vorn bis hinten gelogen ist? Ich habe keine passende Anrede gefunden. Du heißt nun einmal, wie du heißt – was soll ich sagen? Ich wollte sie später eintragen, habe es aber offenbar vergessen. So. Natürlich, du hast es gemerkt, bist ja vom Fach. Und nun bist du hier und versuchst mir mit umständlichen Worten zu erklären, dassdu eine Frau suchst, die keine gute Figur zu haben und auch nicht besonders schön zu sein braucht, jung muss sie auch nicht mehr sein, aber drei und vier sollte sie zusammenzählen können. Am besten noch mit Kindern und unrasierten Beinen. Und dabei hast du an mich gedacht. Das ist sehr schmeichelhaft!«
»Nein! Nein! Um Himmels willen! Du hast mich völlig falsch verstanden. Oder vielleicht habe ich Idiot mich auch falsch ausgedrückt. Ich wollte sagen, dass du die Frau bist, die alles hat! Schönheit und Geist. UND, nicht ODER! Du bist die schönste Frau unter der Sonne!«
Helene rollte die Augen nach oben und deutete ein Pfeifen an.
»Diese Frau auf der Bank hat mich angesichts der Rosen gefragt, ob ich zu einem Heiratsantrag unterwegs sei. Und ob du es glaubst oder nicht: Ich fand es nicht so abwegig … Ich bin verliebt in dich, Helene, und ich möchte nie wieder lose mit dir befreundet sein. Du hast mich in deiner schönen schmalen Hand.«
Helenes zwischenzeitlich kurz aufgeblitzte Lockerheit war dahin. Es war ernst, und das fühlte sich gut an. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so hofiert worden zu sein, und
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