Rosenrot, rosentot
vergangener Kulturen
November 1990
Bereits seit einer Woche war kein Wort mehr über die schwarzen Bücher gefallen. Denn neuerdings gab es im Hause Hemsworth eine Nintendo-Spielkonsole; Charlotte hatte sie zum Geburtstag geschenkt bekommen. Nun verbrachte sie jeden Nachmittag Stunden damit, in die endlosen Welten der Super Mario Brothers einzudringen. Die Sphären der Prophezeiungen und ungenutzten übersinnlichen Energien waren plötzlich vergessen. Rose und ich versuchten uns gelegentlich auch an dem Spiel, verpassten jedoch stets die geheimen Schatztruhen und starben meist früh. Mein Problem war, dass ich mich gar nicht richtig darauf einlassen konnte, weil ich wusste, wiesehr meine Mutter gegen Videospiele war. Woran es bei Rose lag, konnte ich nicht sagen.
An diesem speziellen Abend hatte Paul ein Fußballspiel, und Mr. Hemsworth kam ein bisschen zu spät nach Hause. Es war schon beinahe dunkel, als Rose und ich uns auf den Heimweg machten. Als wir die Einfahrt verließen und auf den Gehweg traten, sprach Rose das Nintendospielen an.
»Ich finde das nicht so gut«, sagte sie. »Vor allem die Musik geht einem richtig auf den Keks. Deshalb habe ich jetzt immer meinen Walkman dabei. So kann ich was anderes hören. Sonst würde mich dieses Lied verrückt machen.«
»Die Musik stört mich nicht so«, gestand ich. »Aber eigentlich darf ich gar keine Videospiele spielen.«
»Ob es jetzt vorbei ist mit Geheimnisse des Unbekannten ? Ich hatte mich schon gefragt, wann sie es wohl satthaben würde. Vielleicht ist sie ja jetzt endlich rausgewachsen.«
»Kann sein.« Ich war richtig stolz, weil Rose sich so mit mir unterhielt – als wären wir beide älter als Charlotte und wüssten es besser.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber die Bücher werden mir fehlen – wenn jetzt nur noch Super Mario Brothers kommt, meine ich.«
»Mir werden sie bestimmt nicht fehlen. Das Einzige, was ich davon mochte, waren die Druiden. Na ja, die Druiden und die Osterinsel.«
»Ich mochte die Aliens am liebsten«, entgegnete Rose. »Und was fandst du an den Druiden so toll?«
»Na ja, jede Menge«, antwortete ich, obwohl mir gar nichts einfiel. »Ähm, am meisten wohl, dass es sie wirklich gab. Charlotte redet die ganze Zeit von übersinnlichen Kräften, dabei gibt es die womöglich gar nicht.«
»Ja, stimmt, die Druiden sind echt. Aber die magischen Kräfte, die sie angeblich gehabt haben sollen, die könnten erfunden sein. Das werden wir allerdings wohl nie wissen.«
»Sie müssen besondere Kräfte gehabt haben. Wie konnten sie sonst diese riesigen Steine bewegen?«, fragte ich.
»Ich behaupte ja nicht, dass keine Magie im Spiel war. Aber was das Aufstellen der Steine betrifft, so hätte es auch gereicht, wenn genug Leute geholfen hätten.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Und ich mag den Donut-Stein. Durch den will ich irgendwann mal gehen und dann abwarten, was passiert. Mal sehen, ob ich mich hinterher anders fühle.«
»Den Donut-Stein?« Rose blieb stehen. Der Wind blies ihr das schmutzig blonde Haar ins Gesicht, aber sie strich es nicht zurück. »Ach so, jetzt weiß ich wieder, was du meinst! Neulich musste ich übrigens auch an den denken. Das war interessant. Du meinst den großen Stein mit dem Loch, oder? Der Kinder wieder gesund macht?«
Ich nickte.
»Du denkst also echt, dass er Leute wieder gesund machen kann? Dass das nicht erfunden ist?«
»Wäre doch möglich«, antwortete ich achselzuckend. »Ich glaube, er muss besondere Kräfte haben. Wieso hätten sie sich sonst die Mühe machen sollen, das Loch in den Stein zu hauen? Das war doch bestimmt viel Arbeit.«
Nun zuckte Rose mit den Schultern. »Den würde ich mir auch gerne mal angucken. Ausprobieren, ob er wirkt oder nicht.«
»Dann tragen wir ihn auf unserer Karte ein«, sagte ich. »Auf Charlottes Karte. Ich habe ihr noch nicht gesagt, dass ich auch dahin will und wir den Ort markieren müssen.«
»Du brauchst es nicht auf Charlottes Karte zu markieren, um dich daran zu erinnern, dass du den Stein sehen willst. Vielleicht reist du ja auch eines Tages allein hin.«
Diese Bemerkung kam mir wie Verrat vor. Es klang, als hätte Rose etwas gegen Charlottes Reise.
»Charlotte und ich planen das schon lange zusammen«, verteidigte ich sie. »Auf der Karte sind viele Sachen, die wir beide sehen wollen.«
»Aber wenn Charlotte schon wegen dem neuen Nintendo das Interesse verliert, wie wahrscheinlich ist es dann, dass sie die Reise
Weitere Kostenlose Bücher