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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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Looking Glass:

    Du
    In seinem Zimmer,
    unter der Blaubeertapete,
    küsst ihr euch, bis die Sonne untergeht ...
    Und die letzte Seite dahinter war ebenfalls aus der Schulzeitung:

    Du
    Diesmal klopfst du an seine Tür –
    eine schöne Hütte auf einem sattgrünen Hügel
    mit Obstbäumen und Sonnenschein
    und Kindern in Kitteln, die lächelnde Löwen streicheln ...
    Oben auf das Blatt hatte Charlotte mit Bleistift ein zartes Fragezeichen gemalt. Anscheinend hatte fast alles, was Charlotte geschrieben hatte, seinen Ursprung in Rose’ Träumen, aber dieses letzte Gedicht – das mit dem Fragezeichen – nicht. Entweder das, oder Charlotte hatte schlicht den dazugehörigen Traum-Zettel verloren.
    Das war die letzte Seite in dem Stapel mit Rose’ Träumen gewesen, nun kamen die von Charlotte. In ihrer sauberen, runden Kinderhandschrift hatte sie gestanden:
    In meinem Traum letzte Nacht konnte ich Geige spielen. Aber keiner außer Nora konnte mich hören. Jedes Mal, wenn ich zu spielen versuchte, sagten Mom, Dad und Rose: »Da kommt nichts raus.« Nur Nora hörte mich. Aber nach einer Weile konnte auch sie meine Geige nicht mehr hören. Doch dann konnte es Brownie, und auch Mr. Cooks alter Hund hörte mich. Die ganzen Hunde kamen angerannt und bellten vor unserer Tür, und Dad sagte schließlich: »Hör auf, das verfluchte Ding zu spielen, sonst werden wir diese Köter nicht wieder los!«
    Und dann:
    Ich hatte fünf Rucksäcke in verschiedenen Farben: türkis, lila, rosa, blau, und der andere war – glaube ich – gelb. Für jeden Schultag eine Farbe. Ich hatte auch passende Schreibblöcke und Stifte inden Farben, für jeden Tag eine andere. Und in dem Traum war Dienstag, Lila-Tag. Aber als ich in die Schule kam, hatte jemand alles vertauscht. In meinem Rucksack waren der rosa Schreibblock und der blaue Stift. Ich ging aus der Klasse und machte mich auf den weiten Weg nach Hause. Als ich zu Hause ankam, war Paul dort, und ich wusste, dass er es gewesen war. Ich fragte ihn: »Warum hast du alles vertauscht?« Und Paul sagte etwas wie: »Ja, ich habe deinen Schreibblock vertauscht, na und? Musst du deshalb gleich die Schule schwänzen? Jetzt kriegst du Ärger.« In dem Traum war ich schrecklich wütend und dachte mir gar nichts dabei, dass Paul auch nicht in der Schule war, was ziemlich komisch ist.
    Ich legte die Notiz zur Seite. Ein Teil von mir vermisste die junge Charlotte aus diesen Träumen. Vielleicht mochte sie bisweilen anstrengend gewesen sein, aber zumindest war sie auch immer direkt.
    Seufzend streckte ich die Beine aus und stieß mit dem Fuß gegen Seelenreisen . Das Buch war die Treppe hinuntergefallen, als ich den Kaffee verschüttet hatte. Es lag aufgeklappt da, und die Seiten zeigten eine Fotoserie von einem dünnen nackten Mann. Er lag in einem Bett, doch sein Schatten schien aufzustehen und vom Körper wegzugehen. Ich lächelte, als ich das Buch aufhob und mir wieder einfiel, wie Charlotte und ich gekichert hatten, weil man auf den Bildern die Genitalien des Mannes von der Seite sehen konnte. Dann blätterte ich um.
    Es folgte eine Zeichnung ganz in Silber. Man sah einen Waldweg, über dem hohe, nach innen gebogene Bäume eine Art silbrig-grünen Tunnel bildeten. Der Tunnel bestand aus zwei Baumreihen mit einem schmalen Pfad dazwischen, der unter einem Dach aus zarten ovalen Blättern verlief. Obenragten die Zweige ineinander, und unten wölbten sich die Wurzeln aus der Erde, sodass sich ihre Enden in der Wegmitte begegneten. Die Baumreihe zog sich endlos hin, wurde kleiner und kleiner, und auch der Weg schien sich in leichten Schlangenlinien bis in alle Ewigkeit fortzusetzen.
    Ich erinnerte mich daran, wie wunderschön ich diese Zeichnung damals gefunden hatte. Sie war eines meiner vielen zweitliebsten Bilder nach den Statuen auf der Osterinsel. Offenbar sollte die Zeichnung illustrieren, wie sich eine außerkörperliche Erfahrung anfühlte. Ich musste zugeben, dass es ein hübsches Bild war, auch wenn ich nicht mehr nachvollziehen konnte, was genau daran mich als Kind so fasziniert hatte.
    Beunruhigt schloss ich das Buch. Diese Sache mit Charlotte, den Träumen und dem Looking Glass musste ich dringend heute Abend ansprechen. Ziemlich sicher hatte Charlotte gleich am ersten Abend meine Aufmerksamkeit auf diese Gedichte lenken wollen, und nun würde ich also nachgeben und sie fragen, was es mit alldem auf sich hatte.
    Detective Tracy Vaughan war älter, als sie am Telefon geklungen hatte. Als ich

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