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Rosenrot, rosentot

Rosenrot, rosentot

Titel: Rosenrot, rosentot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Arsenault
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bis ich begriff, was sie gesagt hatte.
    »Ich habe die nicht geschrieben«, sagte ich, sobald ich meine Stimme wiedergefunden hatte.
    »Sie haben mir gefallen, Nora.« Charlotte ließ den Deckel der Zuckerdose in Ruhe und sah mich an. »Und glaub mir, ich mochte wenig von dem, was anonym in den Kasten geworfen wurde. Das meiste waren Liebesgeständnisse oder irgendwelche künstlich klingenden Gedichte über Inzest. Du weißt schon, die Jugendlichen greifen auch heute noch tief in die Freudsche Kiste, um sich ein bisschen interessant zu machen ...«
    »Ich habe sie nicht geschrieben«, wiederholte ich. »Das erste Mal, dass ich sie gesehen habe, war diese Woche: Als ich in der Bücherei war, habe ich sie mir angeschaut. Vorher kannte ich sie gar nicht. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Außerdem habe ich damals den Looking Glass nicht gelesen.«
    »Ich weiß, dass du sie geschrieben hast. Du hast ein paar von Rose’ Träumen verarbeitet. Das war cool, wie du das einfach eingeflochten hast, den ganzen Kram von früher, meine ich. Das mit der Wäscheleine und den Turnmatten ...«
    »Charlotte ... du hast die geschrieben!«
    »Nora ...« Charlotte neigte den Kopf zur Seite und setztediese mitfühlende Miene auf, die früher schon immer den Wunsch in mir geweckt hatte, sie heftig zu treten.
    »Du hast sie geschrieben. Ich hatte mit dieser blöden Zeitung überhaupt nichts am Hut!«
    »Ich weiß, dass das eine richtig schwere Zeit für dich war. Deshalb hatte ich auch gewisse Skrupel, das Thema überhaupt anzusprechen. Und ich bin es ja auch ganz vorsichtig angegangen, an dem ersten Abend, als du hier warst. Aber ich wollte dich so dringend nach den Gedichten fragen.«
    »Ich habe sie nicht geschrieben, Charlotte!«
    »Na ja, du weißt, was für eine schlimme Zeit das damals war. Vielleicht willst du dich einfach gar nicht mehr daran erinnern.«
    »Das ist doch ... lächerlich«, platzte ich heraus.
    »Warum? Nur weil wir gestern Abend darüber geredet haben, dass sich jeder von uns während der Highschoolzeit für eine Weile von seinem Verstand verabschiedet?«
    »Deshalb und weil ich glaube, ich würde mich daran erinnern, wenn ich mich hingesetzt und fünf oder sechs avantgardistische Gedichte verfasst hätte. Vor allem dann, wenn ich sie hinterher dem einzigen literarischen Organ der Schule zukommen lassen hätte, an dem ich sonst nie auch nur das geringste Interesse hatte!«
    » Avantgardistisch! Komisch, dass du sie so nennst. Eigentlich habe ich sie genau deshalb gemocht. Wegen des skurrilen Tonfalls. Und selbst nach all den Jahren, in denen wir kein Wort miteinander geredet haben, klingen sie immer noch so – ein bisschen wie du, übrigens.«
    Schräg hörte sich also nach mir an. Hm. Ein paar Jahre zuvor hätte ich mich geschmeichelt gefühlt, jetzt nicht mehr.
    »Die sind nicht von mir!«, beharrte ich auf dem, was ichbereits gesagt hatte. »Ich würde mich doch daran erinnern. Damals hatte ich sogar Angst, mich im Unterricht zu melden, Charlotte! Glaubst du ernsthaft, ich hätte mich jemals freiwillig derart in den Vordergrund gedrängt? Und würde mich dann später nicht mal daran erinnern? Mich an so etwas nicht zu erinnern, das käme einer ... Psychose gleich.«
    »Nein, das finde ich nicht. Vielleicht hast du einfach ...«
    »Schon gut, du musst das nicht noch mal sagen. Ich war vielleicht ziemlich verkorkst, aber ich war nicht verrückt.«
    »Was ja auch niemand behauptet. Fahren wir los, Nora. Wir können beim Essen weiterreden.«
    Ich hasste die Art, wie sie das sagte, diesen beschwichtigenden Tonfall, in dem man mit jemandem sprach, wenn man ihm zu verstehen geben wollte, dass er doch bitte vernünftig sein möge.
    »Komm schon. Wir trinken was und reden. Ganz entspannt.«
    »Okay«, murmelte ich und nahm meine Schlüssel.
    Sobald wir dort waren, würde ich sie dazu bringen, es zuzugeben.
    Ich bot an zu fahren, weil ich dachte, Charlotte würde etwas trinken wollen. Sie dirigierte mich zu einer von Fairvilles Einkaufsmeilen.
    »Gehen wir zu dem China-Imbiss?«, fragte ich.
    »Nein, wir wollen da drüben hin«, antwortete Charlotte und deutete auf das Ende des Gebäudes, wo ein großes grünes Neonschild leuchtete, auf dem » JB ’s« stand.
    »Ist das eine Sportsbar?« Allein bei einem Blick durchs Fenster entdeckte ich schon drei Großbildfernseher.
    »Ja.«
    Dass Charlotte dieses Restaurant ausgesucht hatte, erstaunte mich, vor allem nach ihrer Ankündigung, wir würden »wie Erwachsene« ausgehen.

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