Rosenrot, rosentot
Außerdem riss ich mich nicht gerade um solche Läden. Es waren nicht so sehr das endlose Dröhnen der Sportübertragungen, das Bildschirmflimmern in sämtlichen Ecken oder der eklige Grillzwiebelgeruch über allem, die mich störten; es waren auch nicht das Testosteron oder die Frauen mit orangefarbener Kunstbräune und Lipliner. Vielmehr war es der Umstand, dass all das auf einmal auf mich einströmte, der mir nicht behagte. Aber Charlotte war schon immer sportbegeisterter gewesen als ich, also mochte sie solche Lokale wohl.
»Läuft irgendein Spiel?«, fragte ich bemüht versöhnlich.
Charlotte sah mich mit einem seltsamen Blick an und zuckte dann mit den Schultern.
»Klar, es läuft dauernd irgendein Spiel«, antwortete sie. »Ich habe Porter gesagt, dass er um Viertel vor sechs hierherkommen soll.«
»Aha.« Das erklärte natürlich so manches: Wir waren seinetwegen hier.
Allerdings wirkte Porter, als er an unseren Tisch kam – überpünktlich und gleich nachdem wir von einer vollbusigen blonden Kellnerin hingeführt worden waren –, auch nicht wie der Typ von Mann, der sich in solchen Bars aufhielt. Eine eckige Hornbrille dominierte sein schmales Gesicht, und er hatte wirre schwarze Locken. Etwas zu exzentrisch für Charlottes Geschmack, hätte ich gedacht, aber was wusste ich schon? Früher hatten wir nicht viel über Jungs gesprochen, und sie hatte mir nie erzählt, welchen Typ Mann sie mochte.
»Wie war die Schule?«, fragte er Charlotte, nachdem wir einander vorgestellt worden waren.
Prompt gab sie eine Geschichte von einigen ihrer Zwölftklässlerinnen zum Besten. Obwohl sie ständig beteuerte, dass sie am liebsten weit weg von den Schülern wäre, gingen sie Charlotte anscheinend keine Sekunde aus dem Kopf.
»Mit der zwölften Klasse lese ich gerade Kurzgeschichten«, erklärte sie, »in Amerikanischer Literatur. Heute haben wir von Joyce Carol Oates ›Where Are You Going, Where Have You Been‹ gelesen. Kennst du die?«
»Ja«, antwortete Porter. »Ich glaube, die habe ich mal gelesen.«
Jetzt sah Charlotte mich an. »Du hast die Erzählung wahrscheinlich auch in der Highschool gelesen. Sie handelt von einem Mädchen namens Connie. Sie ist fünfzehn, als dieser Sexualverbrecher an ihre Tür kommt und sie nach und nach überredet, in sein Auto zu steigen.«
»Hm, ja, das kommt mir bekannt vor«, bestätigte ich, während ich die Speisekarte überflog.
»Ich weiß ja, dass es ein bisschen geschmacklos von mir ist, diese Geschichte mit ihnen zu lesen«, fuhr Charlotte fort. »Eine unschöne Überschneidung, zugegeben, aber ...«
»Überschneidung?«, fragte Porter. »Wieso ...? Ach so, ja, verstehe.«
»Jedenfalls rief eine Mutter bei mir an, um sich zu beschweren – dabei hatte ich die Erzählung schon länger für diese Unterrichtswoche geplant! Zwar hatte ich tatsächlich überlegt, sie zu überspringen, aber – ganz ehrlich – die ist so herrlich einfach durchzunehmen. Den Schülern fällt immer reichlich was zu der guten Connie ein, sie sagen immer, für wie blöd sie sie halten und so.
Heute also teilte ich die Klasse in Gruppen ein, in denen sie Fragen zum Text diskutieren sollten. Die meisten habennatürlich nichts getan, bis auf eine Gruppe Mädchen. Ihr wisst ja, dass in der Geschichte diese Stelle vorkommt, als Arnold Friend – der unheimliche Typ – versucht, Connie aus dem Haus zu locken, und dabei Sätze sagt wie: ›Ich werde in dir kommen, an deinem geheimsten Ort, und du wirst es mir besorgen‹. Nun, diese Mädchen lasen sich die Stelle gegenseitig vor, wobei sie die Stimme von Barry White nachmachten und vor Lachen fast von den Stühlen fielen. Ich schätze, sie waren vor allem überrascht darüber, dass sie so einen Text lesen sollten. Aber das eigentlich Traurige ist doch, dass sie Connie zwar für blöd halten, aber im Grunde genauso sind wie sie.«
»Wie meinst du das?«, fragte ich.
»Sie können einfach nicht fassen, was sie da hören. Sie sind so unsicher und ahnungslos, dass sie keinen Schimmer haben, wie sie damit umgehen sollen – so unsicher und ahnungslos, dass ich ihnen oft den Hals umdrehen möchte, wenn ich ehrlich bin. Aber gleichzeitig macht mich die Vorstellung, dass jemand diese Unsicherheit und Ahnungslosigkeit ausnutzen und einer von ihnen wehtun könnte, wahnsinnig wütend. Versteht ihr?«
Ein Kellner mit Ziegenbärtchen brachte unsere Getränke: Charlottes Pinot Grigio, meine Cola (ich war nicht in der Stimmung für Alkohol) und Porters
Weitere Kostenlose Bücher