Rosenrot
wie ›Gedankenübertragung‹ und ›Gedankenwellen‹ zu tun hatte, sondern auf einer Fähigkeit beruhte, ganz einfach die Veränderungen des menschlichen Gesichts zu deuten. Würde das die Lüge unmöglich machen? Würde es vielleicht sogar den Weg für eine Gesellschaft ohne Lügen bereiten? Aber jetzt waren sie wieder auf das Gebiet des Metaphysischen geraten...
Statt dessen wandten sie sich dem Bildschirm zu und versuchten, Winston Modisanes Gesicht zu lesen. Ging das? Er sah fröhlich aus, sprudelnd vor Fröhlichkeit, und allein das hatte wohl etwas zu bedeuten. Aber was? Dass er über die Fähigkeit verfügte, fröhlich zu sein? Mehr Menschen, als man glauben sollte, besitzen diese Fähigkeit nicht.
Doch das genügte wohl nicht.
Gunnar Nyberg schaute auf ein Papier und sagte: »Die einzige Information, die wir haben, ist die der Migrationsbehörde. Das ist nicht gerade viel. Winston Ellis Modisane. Geboren 1965 in Kapstadt. Kam im Oktober vorigen Jahres nach Schweden. Beantragte Asyl aus politischen Gründen. Sein Antrag wurde ziemlich schnell abgewiesen. Als die Polizei ihn holen wollte, um ihn abzuschieben, war er verschwunden.«
»Aus politischen Gründen? Im heutigen Südafrika? Wie sehen solche Gründe aus?«
»Das steht nicht da. Wir müssen Kontakt mit der Migrationsbehörde aufnehmen. Worauf wollen wir tippen? Gegner des ANC? Anderseits ist es wohl eins der geeignetsten Länder Afrikas, um oppositionell zu sein.«
»Sie sperren Andersdenkende nicht ein«, sagte Sara Svenhagen.
»Kaum«, sagte Jorge Chavez. »Und er hat ja auch ziemlich schnell seine Ablehnung bekommen.«
»Also einer, der es einfach versucht hat?« fragte Nyberg. »Der herkam, weil es ihm als eine korrekte Art und Weise erschien, das Leben einfacher zu machen, nur um die Grenzen hermetisch verschlossen zu finden? In den schwedischen Touristenbroschüren ist davon wohl nicht die Rede gewesen.«
»Und es gibt keine Information darüber, wer er war?« fragte Sara. »Ich meine nicht Geburtsdaten, sondern – Lebensdaten?«
»Keine Lebensdaten, soweit das Auge reicht«, bekräftigte Gunnar Nyberg. »Anonymer schwarzer Afrikaner. Nicht einmal die Stammeszugehörigkeit wird genannt. Und soweit ich weiß, gibt es ziemlich viele Volksstämme in Südafrika. Es ist eine künstliche Kolonialnation. Von Buren und Oraniern geschaffen ... Oder wie es nun heißt...«
»Wir wissen mit anderen Worten nichts«, stellte Sara Svenhagen fest und begann, eine gekochte Kartoffel zu pellen. Dann verschlang sie die Schale und warf die Kartoffel in eine Tüte.
Gunnar Nyberg betrachtete sie väterlich, während sie die Kartoffelpelle mampfte. »Ist es schon 50 weit?« sagte er.
Jorge Chavez beobachtete seine Frau mit Entsetzen. »Aber was machst du da?« stieß er hervor.
»Das ist gar nicht so blöd«, sagte Nyberg. »Gunilla, meine Exfrau, hatte eine Freundin, die Asphalt aß. Sie hat während der Schwangerschaft ihr Gewicht verdoppelt. Sie ging wie ein Nilpferd. Hinterher konnte sie nie mehr auf Asphaltstraßen fahren. Sie brauchten eine Woche mit dem Wagen, um ihre Eltern in Säffle zu besuchen. Immerhin hast du jemanden, der dir deine Kartoffeln pellt. Denk doch positiv.«
»Es schmeckt gut«, sagte Sara Svenhagen einfach. »Streite nicht mit mir.«
»Wir essen nie Kartoffeln«, murmelte Chavez.
»Man kann Kartoffelschalen frittieren«, sagte Nyberg. »Die sind richtig lecker.«
»Russischer Mist«, zischte Chavez. »Stalingradpampe. Leere die Abfälle aus und brate sie. Ludmila hat dich wirklich gut im Griff, Gunnar. Die Eier sitzen wie im Schraubstock.«
»Du bist ja nicht bei Trost«, platzte Sara heraus, dass die Kartoffelpelle spritzte.
Gunnar Nyberg lächelte nachsichtig und wischte den Bildschirm sauber; er stellte eine Betrachtung über die Phasen der Liebe an. Seine knapp ein Jahr alte Beziehung zur Dozentin Ludmila Lundkvist war ein Verhältnis jenseits des Kinderkriegens. Sie waren beide in den Fünfzigern und hatten nie über die heikle Kinderfrage nachzudenken brauchen. Sie hatten schon jeder ihr Leben eingerichtet, und ihr Verhältnis war ruhig, aber leidenschaftlich, ohne jede Anspannung, ohne jeden äußeren Druck, und er war schlichtweg glücklich. Aber auf eine reife Weise. Keine Himmelsstürmerei. Einfach ziemlich lustvolle Erotik. Ihm passte das ausgezeichnet. Kein Schraubstock in Sicht. Und auch keine Kartoffelschalen. Im Gegenteil, um ihre Finanzen – die immer mehr ihre gemeinsamen wurden – war es besser
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