Rosenschmerz (German Edition)
Armbanduhr stand auf acht Uhr siebzehn. Er ahnte, dass
ihn ein ereignisreicher Tag erwartete.
Es ging damit los, dass sich ein Bewohner des Hauses
Ludwigstraße Nummer 5
in der Nacht beim Jourdienst gemeldet hatte. »Anrufer meint gesehen zu haben,
wie Frau Silbernagl in der fraglichen Nacht abgeholt wurde«, stand im
Protokoll.
Ottakring schäumte einmal mehr. »In der fraglichen Nacht.« Welche
Nacht war nach Ansicht des aufnehmenden Beamten fraglich? Sollte er den
Jourdienst selbst leiten? Hastig griff er nach dem Hörer und tippte die
Kurzwahl ein.
»Ottakring. Hey, nehmt mal euer Dienstbuch und seht nach, welche
Nacht euer schlauer Beamter als ›fraglich‹ bezeichnet. Und gebt dem Mann
Bescheid, dass solche Eintragungen unbrauchbar sind. Lasst ihn am besten drei
Tage Streife gehen, dann merkt er sich’s besser.«
Nach diesem lautstarken Rüffel fühlte er sich irgendwie befreit. Als
wäre er Stress losgeworden.
Er konnte es mittlerweile vor sich selbst nicht mehr leugnen, dass
er sehr leicht die Beherrschung verlor. Früher war das anders gewesen. In
seiner Münchener Zeit hatte der Kriminalrat Ottakring eher als gemütlich
gegolten. Freilich, wenn er darüber nachdachte, wusste er sehr genau, was ihn
bedrückte. Der Dienst war für ihn normale Arbeit, und Arbeit war kein Stress.
Dass er das Rauchen von einer Minute auf die andere aufgeben hatte, war seinem
Nervenkostüm auch nicht gerade dienlich. Aber es hatte sein müssen, und er war
stolz auf diesen Schritt. Manchmal überlegte er allerdings schon, ob seine
Entscheidung, die Vertretung im K1
zu übernehmen, nicht etwas vorschnell gewesen war. Was hätte er alles in der
Zeit, in der er nun wieder eine Ermittlung leitete, unternehmen können? Er
durfte gar nicht dran denken. Wann war er zum letzten Mal gejoggt, so wie in
der Neubeurer Zeit am Inndamm entlang? Seine Anti-Aging-Creme war ihm
ausgegangen, und er hatte noch immer keine nachgekauft. Doch am meisten
belastete ihn Lolas gesundheitliche Situation. Sie redeten bei ihren täglichen
Telefonaten nicht groß darüber, vor allem Lola nicht. Sie hatte sich kurzerhand
einen Crashkurs in Italienisch bestellt und arbeitete jeden Tag damit. Ein
Hörprogramm, bei dem man sich im Liegen entspannt einen Kopfhörer aufsetzt und
sich Vokabeln, Redewendungen und ganze Textpassagen einflößen ließ. Immer, wenn
Ottakring anrief und nach fünfmaligem Läuten der AB ansprang, wusste er, womit sie sich gerade beschäftigte. Er wollte alles tun,
um ihr ihren sehnlichen Wunsch zu erfüllen. Mit ihm zum Skifahren zu gehen.
Der Rückruf vom Jourdienst kam nach einer Minute. Doch Ottakring
entschied anders. »Schickt jemanden hin und bringt den Anrufer zu mir«, ordnete
er an. Er wollte selbst mit ihm sprechen.
Es dauerte keine Stunde, da saß der Zeuge vor ihm. Ein Mann in den
Vierzigern mit den ausgemergelten Gesichtszügen eines Marathonläufers, langem
Hals und wirrem Kraushaar. Er und seine Frau lebten in der Wohnung über
Katharina Silbernagl.
»Wir haben ja alle gewusst, dass die Catrin einen sehr
unregelmäßigen Lebenswandel führt«, sagte er. Er sprach Hochdeutsch. »Sie war
oft nicht da oder blieb auch schon mal über Nacht weg. Das will aber nichts
heißen bei einer hübschen Frau in ihrem Alter. Darf ich rauchen?«
»Nein.« Ottakring verzog das Gesicht. »Was meinen Sie mit
›Lebenswandel‹?«
»Och, nichts Besonderes. Ich meine, sie hat ja wohl ihre Rosen Tag
und Nacht verkauft. In der Stadt, in Hotels und Restaurants, am Bahnhof. Obwohl
sie das Geld ja nicht gebraucht hätte.«
»Interessant, was Sie da sagen. Waren Sie schon mal in ihrer Wohnung
gewesen?«
»Nein. Warum?«
»Wenn Sie bitte einfach nur antworten würden. Woher wollen Sie
wissen, dass Frau Silbernagl nicht auf Geld angewiesen war?«
»Hat sie selbst gesagt. Sie hat ja studiert und will jetzt ein Buch
schreiben. Und das will sie mit ihren Erlebnissen als Rosenverkäuferin
ausschmücken. Hat sie gesagt.«
Ja, ja. Die Silbernagl hatte viel erzählt. Diese Aussage deckte sich
mit dem, was beim Voglwirt gesprochen wurde. Ottakring lehnte sich zurück und
betrachtete seine Schuhe. »Hat sie häufig Besuch bei sich gehabt?«
»Bei sich? In der Wohnung? Nie. Jedenfalls hab ich nichts bemerkt.«
»Wer hat sie abgeholt in jener Nacht?«, fragte er.
»Meine Frau lag schon im Bett. Ich hatte lang ferngesehen und stand
zufällig am Fenster. Außerdem kam aus Catrins Wohnung ein Rumoren. Dann hörte
ich unten die Haustür gehen.«
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