Rosenschmerz (German Edition)
schlechtes Gewissen von
einem anderen Gefühl überlagert. Eine innere Uhr in ihm begann zu ticken.
Schlagartig hatte er es eilig. Er gab Gas und fuhr ins Büro.
»Meine Welt wird bald enden. Ich werde euch verlassen.
Aber nicht freiwillig. Jemand anders, jemand, der uns nahesteht, wird das in
die Hand nehmen.«
Der Brief war mit Tinte geschrieben. Die Handschrift war ungeübt und
altmodisch. Er las ihn zehnmal hintereinander. Später kannte er jede
Formulierung, jedes Wort, jeden Buchstaben auswendig. Trotzdem las er ihn noch
fünfmal.
Schön, dass es noch junge Menschen gab, die Briefe schreiben, dachte
Ottakring. Aus neun Briefen bestand der Stapel aus Katharinas Zimmer in
Morlocks Wohnung. Briefe von und an Menschen in ihrer Umgebung, zu denen
vorerst kein Bezug herzustellen war. Dieser Brief war der letzte, den er las.
Er löste in Ottakring auf der Stelle einen Alarm aus.
Bruni hatte eine Notiz hinterlassen, aus der hervorging, dass das
durchsuchte Zimmer zu bestimmten, unregelmäßigen Zeiten von Katharina
Silbernagl bewohnt wurde. Zeugenaussagen bestätigten es zusätzlich. Offenbar
wusste alle Welt in diesem Viertel, dass Katharina Silbernagl in Morlocks
Wohnung ein- und ausging.
Sonntag. In der Polizeidirektion war es totenstill, und auch die
Kaiserstraße draußen wirkte noch recht verschlafen. Ottakring legte die Füße
auf die unterste Schublade, hielt den Brief zwischen beiden Händen und dachte
nach. Das Papier war leicht vergilbt, auch die Tinte war verblasst. Ihn fror.
Offenbar war am Wochenende in diesem Betonklotz die Heizung so eingestellt,
dass nur Tote überleben konnten.
Verzweiflung klang aus diesem Brief. Abgrundtiefe Verzweiflung, die
sich, wenn er es richtig deutete, an konkreten Tatsachen orientierte. Der
Verfasser – auf den ersten Blick war es eine herbe, männliche
Schrift – fürchtete nicht etwa, an einer Krankheit zu sterben. »Jemand
wird es in die Hand nehmen.« Was war damit gemeint? Ottakring fragte sich aber
auch, ob er nicht einfach dramatisch verbohrt war, ständig gleich das
Schlimmste zu befürchten. »Nicht freiwillig«. Wie war das zu deuten? Er
beschloss, den Brief gleich morgen früh – auch grafologisch –
untersuchen zu lassen.
Und wenn er schon einmal dabei war: Warum suchte er nicht die
Besitzerin des Briefs in ihrer U-Haft auf und zeigte ihr das Stück Papier? Er
hatte eine Reihe Fragen an sie. Es waren nur einige Schritte bis zum
Backsteinbau, in dem sie einsaß.
Zehn vor elf. Lola war entweder in der Kirche oder hatte die Hörer
auf und lernte Italienisch. Er ließ es lange klingeln, versuchte es erneut am
Handy – wieder ohne Erfolg. Sind wir schon an einem Punkt angekommen, von
dem aus es kein vernünftiges Zurück mehr gibt? Muss es immer so schwierig
bleiben mit uns? In solche Gedanken vertieft schritt er die Treppe hinab.
Jemand machte sich mit dem Rücken zu ihm in der gläsernen
Sicherheitszone vor dem Pförtnerraum zu schaffen. Als der Mann sich umwandte,
erkannte Ottakring seinen Intimfreund Kevin Specht. Obwohl er sich in den
letzten Tagen gewünscht hatte, auf Specht zu treffen, hatte er zu diesem
Zeitpunkt wenig Appetit auf eine Auseinandersetzung. Nur – ein Ausweichen
war unmöglich. Specht hatte ihn schon erspäht.
»Grüß Gott, Herr Ottakring!« Specht schwenkte ihm eine pralle
Aktentasche entgegen. »Schön, Sie hier so früh zu treffen. Es ist immer
angenehm zu wissen, dass andere auch von der Arbeit geplagt sind. Wussten Sie
übrigens«, fügte er auf Sächsisch mit einem undefinierbaren Blick unter seinen
buschigen Brauen an, »dass Arbeit die Hauptursache aller Betriebsunfälle ist?«
Dann schüttete er sich aus vor Lachen über seinen Witz.
Auf Ottakring wirkte er wie Falschgeld. Die Atmosphäre war von
Beginn an vergiftet. Specht hatte mit seinen wie immer auf Hochglanz polierten
Schuhen und dem aufgepeppten Sonntagsgwand die Ausstrahlung eines Kirchgängers,
der sich verirrt hat.
Ottakring überkam mit einem Mal die Lust, es diesem Gecken
heimzuzahlen. Warum nicht? An einem Feiertag einen Zweikampf auf der Treppe der
Polizeidirektion austragen? Bitte schön! Er vermied jede Höflichkeitsfloskel
und holte tief Luft.
»Specht, Sie intriganter Quertreiber!«, rief er die Treppe hinunter.
»Wissen Sie, was Gerüchte sind? Die Lieblingswaffe des Rufmörders. Sie erfinden
Gerüchte und verbreiten sie weiter. Plump, ohne Witz, ohne Raffinesse. Einfach
nur, um mir zu schaden. Weil Sie aus eigener Kraft nicht fähig waren,
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