Rosenwahn
unproblematisch war, solange die Zwillinge auf Klassenreise waren. Jeder sollte die Möglichkeit haben, durch die räumliche Trennung ein wenig mehr zu sich selbst zu finden. Eine andere Perspektive konnte manchmal ganz neue Erkenntnisse hervorbringen. Das wusste Georg nur allzu gut aus seinen beruflichen Zusammenhängen. Für die Zeit nach der Rückkehr von Julia und Judith hatte Astrid einen genauen Plan ausgearbeitet, wer sich wann und wo um die beiden kümmern sollte. Diesem Teil des Experiments schaute Georg mit etwas gemischten Gefühlen entgegen, doch bis dahin war ja noch über eine Woche Zeit.
Voller Vorfreude auf den heutigen Abend hatte er in der Innenstadt seine Einkäufe gemacht, denn er wollte Astrid mit etwas besonders Köstlichem verwöhnen. Irgendwie schon komisch, die eigene Frau zum Besuch zu erwarten. Aber wer weiß, wozu es gut war. Nun schmorte im Backofen ein Huhn, nur mit Salz, Pfeffer, frischem Thymian und Zitrone gewürzt, ein Hochgenuss. So ein Huhn war genau das Richtige bei diesem warmen Wetter, es war ein leichtes Gericht und einfach zuzubereiten. Natürlich kam es auf die Qualität des Tieres an. Niemals hätte Georg eines dieser Billighühner angefasst, die blass, neben Bergen aus Hühnerbrustfilet, in den Supermärkten zu unglaublich niedrigen Preisen angeboten wurden. Diese Fabrikhühner hatten kein Fett, keinen Geschmack und waren mit einem Freilandhuhn vom Biohof überhaupt nicht zu vergleichen, von der üblen Massentierhaltung gar nicht zu reden. Seit er gelesen hatte, dass der Appetit der Wohlstandsgesellschaft auf mageres Filet den kleinen Geflügelzüchtern in Afrika die Existenz zerstörte, da sie mit den billigen Hühnerflügeln und Keulen, die quasi als Abfall aus Europa dorthin exportiert wurden, nicht mithalten konnten, kaufte er grundsätzlich nur noch ganze Tiere.
Zum Zitronen-Thymian-Huhn passte hervorragend eine selbst gemachte Mayonnaise mit einem Hauch Knoblauch und ein schön frischer, grüner Salat. Als Vorspeise sollte es nur ein wenig Weißbrot, Öl und Salz und ein paar Oliven geben. Zum Nachtisch hatte er Erdbeeren besorgt, die jetzt auch schon in Norddeutschland reif waren und die ihn durch ihren wunderbaren Duft überzeugt hatten. Er würde sie mit wenig Zucker bestreuen und einfach nur mit Vanilleeis und Sahne servieren – ein hervorragender Abschluss für ein frühsommerliches Menü. Einen sizilianischen Rotwein hatte er bereits geöffnet, eine Flasche Prosecco kalt gestellt und falls Astrid Weißwein bevorzugte, lag auch davon etwas im Kühlschrank. Seine Vorbereitungen waren so gut wie abgeschlossen und er rieb sich zufrieden die Hände.
Wer weiß, dachte Georg gut gelaunt, vielleicht ergaben sich aus so einem Abend zu zweit in einer fremden Umgebung ja ganz neue, frische Perspektiven für die Beziehung. Mit Verwunderung stellte er eine seit Langem nicht mehr empfundene Nervosität beim Warten auf seinen Gast an sich fest.
Da er sich ohnehin um den Garten kümmern musste, die Pflanzen brauchten dringend Wasser bei dem trockenen Wetter, und schließlich war das ja der offizielle Grund für sein Hiersein, ging er hinaus und lenkte sich ab beim Sprengen des Rasens und dem Wässern der vielen Rosenbüsche ums Haus. Steffen und David schienen eine besondere Vorliebe für Rosen zu haben, andere Blumen gab es kaum. Er betrachtete die blühenden Pflanzen mit ihren unterschiedlichen Formen und Farbschattierungen mit größerem Interesse als sonst. Manche von ihnen verströmten ein sehr intensives Aroma, aber so einzigartig wie die Rosa alba auf dem Grab von Meral Durgut schien ihm keine einzige zu duften.
Ein Blick auf die Uhr sagte Derya, dass sie jetzt einen Zahn zulegen musste, wenn sie pünktlich um sieben bei ihrer Kundin sein wollte. Auch für sie als Profi war ein vegetarisches Büfett für 20 Personen ein großes Stück Arbeit, vor allem, weil ihr Ehrgeiz verbot, auf Fertigprodukte zurückzugreifen, und sie alles selbst frisch zubereitete. In der türkischen Küche spielten Gemüse eine wichtige Rolle, und es gab eine Vielzahl von schmackhaften Gerichten ohne Fleisch, sodass dieser Auftrag für Derya nichts Besonderes war. Allerdings hatte sie sich heute wohl doch ein bisschen viel zugemutet. Schließlich durfte sie nicht vergessen, dass sie diese Aufgabe fast allein bewältigen musste, da Gül immer noch nicht wieder aufgetaucht war und Derya es bisher nicht für nötig gehalten hatte, sich jemand Neuen zu suchen. Noch nicht jedenfalls. Gül
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