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Rosenwahn

Titel: Rosenwahn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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gleich beim ersten Versuch zu Hause an. Sie war eine der aufrechten Vertreterinnen ihrer Zunft, die für diesen Beruf wirklich gemacht waren, die nicht nur ihn liebten, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, mit denen sie zu tun hatten.
    Simone Kaltenbach empfing die beiden Beamten in ihrem Arbeitszimmer, das vor Büchern und Papier überquoll und in dem eine riesige Pinnwand hing, die mit ihren vielen Fotos, Zeichnungen und Gedichten von Klassenfahrten, Schulfesten und erfolgreichen Abiturjahrgängen zeugte. Zwischen Schulheften und Briefen stand ein voller Aschenbecher auf dem Schreibtisch. Trotz einer offen stehenden Tür zum Garten roch es im Zimmer unangenehm nach altem Zigarettenrauch. Die Lehrerin war eine große, kräftige Frau – um die 50, schätzte Angermüller –, ein ruhiger Typ, der Energie und Zuversicht ausstrahlte.
    »Ach ja, Meral. Das war ein ganz liebes Mädchen. Ich habe oft an sie denken müssen in den letzten Jahren. Immer hab ich mich gefragt, ob sie wirklich abgetaucht oder ob ihr nicht doch etwas zugestoßen ist. Ich hab auch gedacht, sie würde sich bestimmt melden, wenn sie noch lebt. Richtig überraschend ist diese Nachricht jetzt also nicht für mich, aber trotzdem trifft es mich natürlich irgendwie.« Simone Kaltenbach blickte durch das Fenster hinter ihrem Schreibtisch in den sonnigen Garten, der mit seiner Pflanzenfülle wie eine grüne Wildnis aussah. »Meral war eine gute Schülerin. Fleißig, eifrig, interessiert und von schneller Auffassungsgabe. Sie wäre bestimmt eine tolle Anwältin geworden. Aber sie war eben auch eine gute Tochter. Sie wollte vor allem ihren Eltern Freude bereiten, sie glücklich machen. Nur hatten die halt andere Ziele im Leben für Meral vorgesehen.«
    »Aber ihre Schwester hat es uns gegenüber so dargestellt, dass Meral ziemlich skrupellos ihre eigenen Interessen durchgesetzt hat«, warf Angermüller erstaunt ein.
    »Das ist völliger Blödsinn«, entgegnete Frau Kaltenbach ruhig. »Aber es wundert mich nicht. Sibel muss so etwas sagen, zu ihrem eigenen Schutz. Nachdem Meral verschwunden war, ist Sibel trotz guter Noten mit der Mittleren Reife von der Schule abgegangen. Sie hat sich völlig zurückgezogen von allen, die sie kannte, und plötzlich Kopftuch getragen. Gegen Kopftuch hab ich nichts, wenn es für ein Glaubensbekenntnis steht. Bei uns gibt’s auch Leute, die tragen ein Kreuz um den Hals. Aber ich weiß nicht, ob das alles Sibels eigene Entscheidungen waren oder die Eltern es verlangten, keine Ahnung. Jedenfalls hoffe ich, sie ist glücklich damit.«
    Mit der routinierten Selbstverständlichkeit der jahrzehntelangen Raucherin griff Simone Kaltenbach nach ihren Zigaretten, klopfte eine heraus und zündete sie an. »Sie entschuldigen«, wandte sie sich lächelnd an die Beamten. »Das ist hier einer der wenigen Orte, an denen ich meinem Laster noch ungestört frönen kann. Und irgendwie muss ich ja auf mein tägliches Quantum kommen.« Genüsslich nahm sie einen tiefen Zug.
    »Wie denken Sie denn über Merals Verhalten gegenüber ihren Eltern?«, wollte Angermüller wissen.
    »Das Mädchen war hin und her gerissen zwischen der Liebe zu ihnen und ihrer eigenen Zukunft. Meral ist ein gutes Beispiel für die schwierige Situation von Migrantenkindern, vor allem wenn sie aus einfachen, bildungsfernen Familien kommen, wie das so schön heißt. Dort zählen unsere Werte wie Bildung, Berufstätigkeit, Selbstverwirklichung nicht, vor allem nicht für Frauen und Mädchen. Und ich rede jetzt keineswegs von islamischen Fundamentalisten, nur von ganz normalen Familien, die einfach nur gläubig und konservativ sind. Oder traditionell, sagt man wohl eher. All das, was hier ja leider immer mehr verloren geht, der Zusammenhalt in der Familie, die Wertschätzung der Heimat, der eigenen Kultur und Gebräuche, hat bei denen eben noch eine große Bedeutung, und die jungen Leute hängen zwischen diesen unterschiedlichen Lebensentwürfen. Das alles unter einen Hut zu kriegen ist verdammt schwierig.«
    »Wie haben Sie überhaupt mitbekommen, dass Ihre Schülerin familiäre Probleme hatte?«
    »Ich war drei Jahre lang Merals Klassenlehrerin und gleich als ich sie kennenlernte, spürte ich, dass sie in mir mehr sah als eine Lehrerin. Sie suchte das Verständnis eines Erwachsenen, brauchte jemanden, mit dem sie reden konnte, der sie verstehen würde und der auch ihre Fähigkeiten anerkannte. Es gab da wohl eine Tante, die aber nicht in Lübeck lebt. Wie gesagt, Meral

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