Rosenwahn
Zentrum der einzige Punkt im Leben der beiden Toten, wo sich ihre Wege gekreuzt hatten. Gleich morgen würde er mit Jansen dorthin fahren.
»Na, du sagst ja gar nichts«, stellte Derya etwas enttäuscht fest. »Ist das jetzt kein interessanter Hinweis?« Sie hatte wohl eine andere Reaktion erwartet.
»Doch, natürlich!«, beeilte sich Georg zu antworten. »Ich habe gerade schon überlegt, wie wir morgen der Sache nachgehen werden. Und vielen Dank, dass du dir die Mühe gemacht hast, hier vorbeizukommen.«
»Da wäre noch was anderes«, Derya warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. »Du weißt schon, Gül … Seit anderthalb Wochen hab ich nichts mehr von ihr gehört und sie nicht erreicht. Ich habe inzwischen ihre Freundinnen in dem Café getroffen, das Friede mir genannt hatte, aber die konnten mir auch nicht weiterhelfen. Vielleicht fällt mir ja noch irgendwas oder irgendwer ein, wo ich über Gül etwas herausbekommen könnte«, sie hob hilflos die Schultern, »aber du kannst dir vielleicht denken, dass ich nach dieser Geschichte mit den toten türkischen Mädchen erst recht nicht mehr ruhig bleiben kann. Wird die Polizei denn jetzt was unternehmen?«
Das war nett formuliert. Sie meinte natürlich Georg. Der fand das Fernbleiben ihrer Mitarbeiterin inzwischen auch nicht mehr im normalen Rahmen. Doch er behielt das lieber für sich, um bei Derya nicht noch mehr Ängste zu wecken.
»Wie heißt es so schön: Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Also würde ich sagen, wir gehen gleich zusammen zu den Kollegen vom K16, das ist die Fahndung«, schlug er ihr im Plauderton vor. »Dann hast du getan, was du tun konntest und bist hoffentlich ein wenig beruhigt.«
»Wieso Fahndung?«
»Das heißt nichts weiter, als dass dort deine Angaben zu deiner Mitarbeiterin aufgenommen werden, eine Vermissten-Fahndung eingeleitet wird und man ihre Daten im bundesweiten INPOL-Computer erfasst.«
»Einverstanden. Dann habe ich wenigstens das Gefühl, es passiert etwas«, nickte Derya.
Er begleitete sie zum K16 und half ihr, die Vermisstenanzeige aufzugeben. Als sie schließlich draußen vor dem Behördenhochhaus standen, um sich zu verabschieden, war es fast halb acht. Windstöße fegten um die Ecken und es regnete.
»Du kommst ja jetzt nicht mit nach Hause, oder?«, fragte Derya und sah Georg an. »Du bist ja mit deiner Familie verabredet.«
Da war er wieder, dieser seltsame Unterton.
»Ja, stimmt. Und ich bin schon wieder viel zu spät«, bestätigte Georg nach einem Blick auf die Uhr, leicht zerknirscht.
»Wo musst du denn hin?«
»Ach, La Magnifica, irgend so eine komische Pizzeria in der Gegend von der Schlutuper Straße. Ich glaube, ich nehm am besten ein Taxi.«
»Soll ich dich vielleicht mitnehmen?«
Erst versuchte Georg ihr Angebot abzulehnen, aber Derya schüttelte den Kopf. »Los, komm schon, das ist doch kein großer Umweg für mich. Außerdem hab ich’s dir angeboten, und wir Türken sind beleidigt, wenn man angebotene Hilfe nicht annimmt.«
Derya war wieder ganz die Alte und erzählte ihm während der kurzen Autofahrt ein paar Geschichten von Aylin. Georg hörte amüsiert zu. Es schien, als ob allein die Tatsache, eine Vermisstenanzeige aufgegeben zu haben, Deryas Sorge um Gül vorerst in den Hintergrund gedrängt hatte. Trotzdem sprach Georg das Thema noch einmal an, als sie vor der Pizzeria angelangt waren.
»Eines wollte ich dir noch sagen: Du hast jetzt ja die Vermisstenanzeige aufgegeben, und die Polizei kümmert sich darum, deine Mitarbeiterin zu finden. Das heißt, du kannst deine privaten Ermittlungen einstellen«, sagte er mit scherzhaftem Unterton. Er sagte ihr nicht, dass er das jetzt für zu gefährlich hielte, sollte es wirklich einen Zusammenhang zwischen Güls Verschwinden und den toten Mädchen geben.
»Wenn du meinst. Ich wüsste sowieso nicht, wo ich noch nach Gül suchen und wen ich jetzt noch fragen könnte«, antwortete Derya leichthin.
»Falls dir aber doch noch irgendwas einfällt: Hier ist meine Karte. Du kannst mich natürlich jederzeit anrufen.«
»Mach ich«, versicherte Derya und schob die Karte in ihre Jackentasche. Er löste seinen Sicherheitsgurt.
»Vielen Dank fürs Bringen. Mach’s gut, Frau Nachbarin.«
Derya beugte sich zu ihm herüber und hauchte ihm, wie sonst auch in der Zeit ihrer Bekanntschaft, zum Abschied zwei Küsschen neben die Wangen.
»Na dann, schönen Abend noch. Sehen wir uns denn noch mal in meinem Viertel?«, fragte sie ihn mit einem Lächeln.
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