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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Welt
gibt, und wir haben es geschafft.«
    Natürlich hatten sie noch nichts geschafft. Sie hatten alle bloß die
richtigen Eltern gehabt, waren in den richtigen Vierteln aufgewachsen und auch
auf die richtigen Schulen gegangen, sie hatten das richtige Sozialverhalten
gelernt und die richtigen Prüfungen bestanden. Einfach keine Chance zu
versagen. Sie hatten sichangestrengt, doch stets mit der Erwartung, das zu
kriegen, was sie wollten – weil die Welt ihnen auch nie was anderes gezeigt hatte.
Es gab nur wenige darunter, die sich ihren Platz erarbeitet hatten. Sie gaben
alle zu, dass sie verwöhnt waren, doch innerlich fanden sie alle, dass sie es
verdient hatten.
    Natürlich hatte sie kein Wort gesagt. Sie wünschte jetzt, dass sie’s
getan hätte, aber so war es nicht gewesen. Es war leicht, heute zurückzublicken
und diese Gedanken zu haben, doch damals wollte sie sich einfügen und Bunnys
Meinung teilen, ja, ich hab das glückliche Leben verdient, das ich jetzt lebe.
    Sie war immer noch verblüfft über die Freundschaft zwischen Isaac
und Poe. Aber natürlich musste umgekehrt auch ihre Nähe zu Poe Isaac verblüfft
haben. Vielleicht kam das daher, dass alle Leute Isaac und Poe immer als etwas
ganz Besonderes gesehen hatten – Poe wegen der körperlichen Fähigkeiten, Isaac
wegen des Intellekts. Sie waren jedenfalls in dem, was sie gut konnten, an der
Schule beide nicht zu schlagen gewesen. Es war wohl eine typische Kleinstadtverbitterung,
die vor Genugtuung zu platzen schien, als beide scheiterten.
    Nach Isaacs erstem Besuch bei ihnen in New Haven hatte sie geglaubt,
er würde wiederkommen, einen Monat lang im Sommer, und sie wollte Geld
zusammenkratzen, um in diesem Monat eine Vollzeitpflegekraft für ihren Vater zu
bezahlen. Damals hatte sie schon zwei Kreditkarten – sie würde irgendeinen Weg
finden.
    Doch Isaac hatte auf ihre Angebote, noch einmal zu kommen, nicht
geantwortet. Da war er schon dabei, sich zu verändern. Nein, dachte sie,
vielleicht lag ihm nur zu viel an seinem Vater. Henry hätte das als Ferien betrachtet,
Isaac macht Urlaub in Connecticut, und Isaac lag zu viel an der Meinung seines
Vaters, um das zu riskieren. Du hattest es leicht, dachte sie. Dich hat man vom
Haken gelassen.
    In Wahrheit war wohl Isaac noch nicht bereit zu gehen, nicht so, wie
er es behauptete. Er hatte länger Zeit gehabt für dasGedenken an ihre
Mutter, als Lee bereits in eine andere Umlaufbahn gezogen wurde – sie war ja
fast sofort nach New Haven aufgebrochen. Und sie hatte keine Ahnung, wie die
Jahre seither Isaac und ihren Vater als Menschen verändert hatten. Alles konnte
da geschehen sein. Du hattest Glück, dachte sie. Du warst zu selbstsüchtig, um
ein Bleiben auch nur zu erwägen.
    Isaac, dem konnte man zwei x-beliebige Zahlen geben und sagen, die
multiplizierst du mal im Kopf: 439 mal 892 . Binnen weniger Sekunden hatte er die Lösung raus. Er
sah die Antwort einfach, musste nicht mal rechnen. Oder dividiere sie –
dasselbe. Einmal hatte sie mit einem Taschenrechner dagesessen und ihn testen
wollen, weil sie sicher war, er hätte feste Zahlenkombinationen nur auswendig
gelernt, da musste es doch einen Trick geben. Bloß gab es keinen. »Manche Dinge
an mir, die versteh ich nicht«, sagte er achselzuckend.
    Und ihr Freund im ersten Jahr, Todd Hughes, Hauptfach Physik, war
ganz begeistert gewesen von Isaac, er hatte seine Hochbegabung gleich erkannt
und angeboten, ihm bei den Bewerbungen zu helfen. Isaac hatte die meiste Zeit
des Wochenendes neben Todd gesessen. Doch dann war ihr Todd zu langweilig
geworden. Oder er war einfach nur zu früh in ihrem Leben aufgetaucht, sie war
zu jung gewesen. Du hättest mit ihm zusammenbleiben sollen, nur für Isaac,
dachte sie. Du bist in dieser Familie die Einzige, die keine Opfer bringt. Und
Simon, der am selben Wochenende Isaac begegnet war, hatte sich keinen echten
Eindruck von ihm gemacht, Isaac umgekehrt auch nicht.
    Früher hatte es mal eine Zeit gegeben, ihre Highschool-Jahre
größtenteils, da meinte sie, sie müsste nur die Augen schließen und lang genug
daran denken, um zu sehen, wo genau sich Isaac in dem Moment befand. Weil du
seine Gewohnheiten gut kanntest, dachte sie. Das ging auch ohne Zauberei. Sie
fuhr über die höher gelegene Straße weiter, die dem Flusslauf folgte.
    Gut, dachte sie. An der Uferstelle hielt sie an, machte den Motor
aus und sah über die Wiese auf die Felswand gegenüber,steil aufsteigend aus
dem Fluss, der mit der nächsten Biegung

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