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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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waren. Es ging
darum, Plastikfolien über Abfallhaufen zu drapieren, und man saß die ganze Zeit
auf öffentlichen Müllhalden herum. Dein Land sollte dir etwas Besseres zu
bieten haben, dachte er.
    Und Mike DeLucas Onkel, der Poes letzte große Chance gewesen war,
der dritte Streich quasi, ein Demontagejob beim Abriss alter Stahlwerke und
anderer Fabriken, überall hier in der Gegend, sogar landesweit. Auch das war
mit zahlreichen Reisen verbunden, Poe hatte sich beworben und ein
Vorstellungsgesprächgehabt, nur, diese ganzen Reisen andauernd und immer
aus dem Koffer leben, offenbar hatte der Mann, der mit ihm sprach, etwas in
Poes Gesicht bemerkt. Derzeit gab’s diese Arbeit im Mittleren Westen,
Autofabriken in Michigan und Indiana mussten abgerissen werden. Eines Tages
würde sogar diese Arbeit auslaufen, und dann blieb nichts davon zurück, es
würde nichts mehr da sein, keine Bauten, nichts, woran die Menschen sehen
konnten, dass je irgendetwas in Amerika hergestellt worden war. Das würde große
Schwierigkeiten mit sich bringen, wie genau, das wusste er nicht, doch er fühlte
es. Man konnte doch kein Land haben, das so groß war und keine Dinge für sich
selber herstellte. Das würde irgendwann noch Folgen haben.
    Und was Mike DeLucas Onkel anging, der hatte erst zwanzig Jahre lang
in Stahlwerken gearbeitet und dann noch einmal zwanzig Jahre damit zugebracht,
sie abzubauen, zu verschrotten, seine Rache gegen die Stahlwerke, gegen die
Entlassung, aber eigentlich war das auch keine Rache, diese Arbeit wollte
keiner machen, welche Lügen er erzählen musste, wenn er in die Kleinstädte kam
und die Kellnerin ihn fragte, »Na, und was bringt Sie in unsere Stadt?«
    Es war nicht alles schlecht. Er hatte doch ganz gut gelebt, als Leitwolf
und Lokalheld, das war mehr, als viele sagen konnten. Hatte vierzehn Frauen
gehabt, das war mehr, als viele sagen konnten. Vielleicht hatte eine von ihnen
ein Baby, von dem er nichts wusste, Leben nach dem Tode. Bloß dass es nicht
unbedingt so laufen musste. Wenn er nur die schlichte Wahrheit sagte, ja, die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Er hatte den Mann, der Otto hieß, nicht
umgebracht, sie würden ihn entlassen, und die Männer, Clovis und die anderen Männer,
die ihn töten wollten, würde er nie wiedersehen.
    Wie im alten Sprichwort, dass die Wahrheit dich befreien wird. Er
würde draußen atmen können, dasitzen, die Luft vom Fluss auf seiner Haut, im
Schatten angeln, Eiersandwiches verspeisen, ein Kaninchen mit der Kaliber . 22 schießen. Gott, was er miteiner . 22 hier drin ausrichten könnte, das war das kleinste der Kaliber, und du könntest
damit glatt den ganzen Laden führen. Dann könnte er weg von hier, mit Lee warm
unter einer Decke liegen, die von ihren Beinen hochgehalten wurde wie ein Zelt.
Ihr Duft, die weiche Haut, die kleine raue Stelle zwischen ihren Beinen. Endlos
waren die Vergnügen dieses Lebens, es gab sie millionenfach, du könntest mit
dem Auflisten ein Leben zubringen, für jeden Menschen etwas anderes, zum
Beispiel Eichenrinde unter deinen Fingern, Licht in einem Zimmer oder Ansitzen
auf einen großen Bock und dann entscheiden, ihn doch nicht zu schießen. Dieses
Privileg konntest du jederzeit verlieren, immer hatte er’s als selbstverständlich
hingenommen, doch jetzt würde er sein Leben ändern. Würde dafür sorgen, dass
sein Leben einen Sinn bekam. Du konntest dich nicht treiben lassen und erwarten,
dass es alles gutging, das hatte er nicht gewusst, aber er wusste es jetzt, und
er würde alles ändern.
    Er legte sich auf den kalten Fußboden, er steckte seinen Kopf unter
das Bett und lag da, sein Gesicht im Dunkeln. Er konnte die Wahrheit nicht erzählen,
weil sie nicht die Wahrheit war, nicht richtig. Lee würde ihm nicht verzeihen.
Sie würde ihn als das sehen, was er war. Sie würde nie mehr an ihn denken,
würde ihn mehr hassen, als sie je einen Menschen gehasst hatte, man musste kein
Genie sein, um das zu begreifen. Schließlich kannte sie seine Geschichte. Es
war falsch gewesen, sie ihr zu erzählen. Aber es gab keinen Weg zurück, er kam
nicht drumherum, sie würde ihm niemals verzeihen, Isaac war doch ihr Bruder,
undenkbar, dass sie darüber wegsah.
    Als er daran dachte, fühlte er sich noch schlechter, er schwitzte
wieder. Nein, das konnte er nicht zulassen. Er hatte sich die Tür selbst vor
der Nase zugeschlagen, als er ihr alles erzählte. Aber lügen konnte er auch
nicht. Er hätte es eh nicht getan, den besten Freund

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