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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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müde, seine Beine waren in den wenigen Minuten steif
geworden, hatten sich verkrampft, doch er stand auf und setzte sich in Gang.
    Das Ganze geht um Folgendes: Setz immer einen Fuß hübsch vor den
anderen. Und halt dich warm. Was du da in dem Kaufhaus getan hast, das wirst du
wieder tun müssen, vielleicht nicht morgen, aber übermorgen. Tu ruhig so, als
wärst du anders, bist du aber nicht. Auch du musst essen.
    Gib’s doch endlich zu. Hör auf zu gehen. Nein, ich möchte lieber
nicht. Ich setze mein Vertrauen auf den Kleinen, dem fällt schon was ein.
    Er schob sich weiter durch das hohe Gras. Der Himmel über ihm war
weit und dunkel, und er konnte keine Lichter von den Häusern mehr erkennen.
    Deinen Kleinen gibt es gar nicht, dachte er. Es gibt nur dich.

10 . Grace
    Sie hatte kaum geschlafen, und das Licht kam schon seit einer
Weile durch das Fenster, wieder Morgen, hatte keinen Zweck. Sie meldete sich
bei der Arbeit krank. Sie musste nachdenken. Ertappte sich vor Billys Tür; das
Loch, das er hineingeboxt und dann mit Abdeckband verklebt hatte, irgendein
Wutanfall, ihr fiel der Anlass nicht mehr ein, sie schob die Tür auf und betrat
sein Zimmer. Stille herrschte da, alles voll Sonne und voll alter Staubmäuse.
Ein bisschen wie ein Grab. Sie ließ sich auf sein Bett gleiten, das immer noch
stark nach ihm roch, nach ihrem Jungen und dem Mann, der er geworden war.
    Das kindliche Gepräge dieses Zimmers, alte, durchhängende Poster,
wild zusammengeschmissene Stapel, Kleider, Schuhe, Jagdzeitschriften,
Schulaufsätze, an denen er lang gesessen hatte, eine Vorhangstange, die vor
Monaten runtergefallen war, die wieder anzubringen er dann aber nicht mehr
nötig fand. Sie hätte etwas essen sollen, hatte aber keinen Hunger. Sie hatte
getan, was sie nur konnte, es war nicht genug gewesen. Welche Gründe es für all
das gab, würde sie nie erfahren, aber sie war schlicht nicht gut genug gewesen,
das würde sie nie verstehen. Er hatte ihr das Leben leichtgemacht, das sah sie
jetzt – wie oft bist du doch hingegangen, nur für ihn .
Ein Grund zum Leben, ebenso ein Grund zum Sterben. Bei der Schwere, die sie fühlte,
konnte sie sich kaum vorstellen, aufzustehen.
    In der Ecke lehnte sein Jagdbogen, und neben dem Bett stand sein
Gewehr, das waren die einzigen Dinge, um die er sich hingebungsvoll kümmerte,
er wachste stets die Bogensehne, ölte das Gewehr und hängte beides auf die
jeweiligen Vorrichtungen an der Wand, hölzerne Pflöcke, von ihm selbst gemacht.
Sie standauf, hob die Winchester herunter und spannte den Hahn, sie wusste
nicht, ob sie geladen war. Sie schaute auch nicht in der Kammer nach, sie hielt
sie nur und spürte das Gewicht. Es war ein Spiel, und sie konnte es spielen, ob
geladen oder nicht. Falls es geladen war, war sie ja nicht dran schuld.
    Nach einer Weile legte sie die Waffe hin, und ihre Hände fingen an
zu zittern. Sie hätte das Zimmer jetzt verlassen müssen, Billys Zimmer, aber
das wollte sie nicht. Sie setzte sich zurück aufs Bett.
    Sie würde das Gewehr loswerden, es Bud geben müssen. Aber vielleicht
war es auch zu spät, dieser Gedanke war ihr durch den Kopf gegangen, langsam
untergrabend, wie das Wasser eines Flusses fließt oder ein alter Kohlenschacht
plötzlich ein Haus zum Einsturz bringen konnte. Zog die Erde unter dir weg, und
dann …
    Bloß dass Harris immer noch da war. Sie würde nicht allein sein.
Aber ohne Billy fragte sie sich, ob sie immer stiller werden würde, schrumpfen
bis zum Nichts, es war doch nur geliehene Zeit gewesen, alles auf Hoffnung
gebaut. Unter dem Blödsinn, dass man sich fürs Glücklichsein entschied, lag
immer Hoffnung. Was so viel wie Zweifel hieß. Der Herzschlag, der kurz
aussetzte, weil alles im Begriff war, sich zu ändern.
    Was sie meinte, war der Glaube, war die Zuversicht, dass sie noch
immer etwas Besseres erwartete, dabei war es in Wirklichkeit ein Rattennest,
ein Knoten, den man nicht entwirren konnte.
    Sie stand auf und öffnete den Kleiderschrank, da lag nichts auf Regalböden,
es war ein Riesenhaufen, den die Schranktür gerade mal zurückhielt. All das
musste sie entsorgen, denn er würde doch nie wiederkommen.
    Bloß dass ich nie einem Menschen was getan habe, sagte sie laut.
Warum muss ich dafür bezahlen. Und das stimmte – sie hatte niemandem was getan.
Und ihre Arbeit in dem Frauenhaus – da hatte sie vielen geholfen. Auf Billys
Kommode standenein paar alte Bierflaschen, sie wusste nicht, seit wann
schon, nahm eine beim

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