Rost
verraten, weil er so nicht
war, er konnte daran denken, aber tun konnte er’s nicht. Es war wie gucken,
aber nicht anfassen.
Bloß dass er halt sehen würde. Es ging um sein Leben. Es ging
darum, Überzeugungen mit Leben aufzurechnen, das war keine zulässige Rechnung,
Worte gegen Blut. Mal sehen. Wenn der Anwalt käme, würde er alle Papiere
unterschreiben, fertig. Er würde von sich aus nichts anbieten, aber wenn sie
ihn denn fragten, würde er’s erzählen. Da hätte er keine andere Wahl. Und wenn
sie nicht fragten, würde er auch nichts sagen. Bloß dass sie natürlich fragen
würden. Das wäre die erste Frage, höchstwahrscheinlich.
Also konnte er nicht mit dem Anwalt reden. Einfach wütend bleiben,
daran denken, dass er Clovis kriegen konnte oder gar Black Larry, und dann
würde er sie mitnehmen. Er würde als Legende untergehen, so einfach war das, so
schnell konntest du dein Schicksal ändern. Dann kam ein Geräusch von
irgendwoher. Er lag immer noch unter dem Bett. Er spähte raus und sah einen der
Wärter an die Gitterstäbe klopfen.
»Handschellen«, sagte er, »Anwalt ist da.« Und er öffnete den
Schlitz in der Tür, durch den Poe die Hände stecken sollte.
Doch Poe schüttelte den Kopf. Er rappelte sich auf und stellte sich
ans Klo, versuchte reinzupinkeln, doch er war viel zu nervös, es kam nichts.
»Schaff dich her, verdammt noch mal, für deine Handschellen«, sagte
der Wärter. Er war klein und dick, mit Haarausfall und einem heiteren Gesicht,
sah plump und fett aus, aber glücklich auch, er konnte gar nicht anders.
»Ich geh nirgendwohin«, sagte Poe.
»Hör auf, den harten Typen zu markieren, Scheiße. Komm jetzt aus der
Zelle raus, verdammt noch mal, sonst hast du gleich das Sondereinsatzteam im
Nacken.«
»Hol sie doch, du Sack. Die können mich ja tragen, aber gehen tu ich
nicht.«
»Du bist ein selten dummer Wichser, weißt du das.«
»Mach doch die Tür auf, wirst schon sehen, wie dumm ich bin.«
Der dicke Mann betrachtete ihn amüsiert. »Na schön«, sagte er,
klopfte an die Gitterstäbe und ging los.
»Hey«, sagte Poe.
»Schon anders überlegt?«
»Was ist mit diesem Kerl? Der mit mir in der Zelle war?«
»Der ist im Krankenhaus in Pittsburgh.«
»Kommt er wieder?«
»Falls er wiederkommt, macht er wohl keinen Ärger mehr.«
»Der ist mir scheißegal.«
»So geht es allen. Wenn die ihn nicht ganz schnell aus der Krankenstation
abgeholt hätten, dann wären zirka fünfzig Mann bereitgestanden, um ihn
endgültig aus dem Verkehr zu ziehen.«
»Wird mir das was nützen?«
»Du kriegst keine neue Anklage, das steht schon fest. Jetzt schaff
dich her und streck die Hände durch, damit du deinen Anwalt treffen kannst.«
»Nein«, sagte Poe.
»Was immer deine Gründe sind«, sagte der Wärter. »Vielleicht meinst
du, dass zu Hause deine Kumpel das auch für dich machen würden, aber Irrtum,
sag ich dir, und wenn du mir nicht glaubst, dann schau dich doch mal in der
Zelle um, ob du sie irgendwo siehst. Also, Hände durchstrecken. Gib dir die
Chance.«
»Bemüh dich nicht.«
Der Wärter warf ihm einen letzten Blick zu. Dann verschwand er, und
Poe hörte ihn den Gang hinunterschlurfen.
8 . Lee
Die meiste Zeit des Tages hatte sie damit verbracht,
herumzufahren, Orte aufzusuchen, wo sie lesen konnte, und dann weiter, an den
Häusern alter Freunde oder Lehrer vorbei, aber überall dasselbe. Dieser Ort
hatte ihr nichts zu geben. Vielleicht eines Tages mal, aber nicht jetzt. Sie
hatte wenige nostalgische Erinnerungen, und zumeist kam Isaac darin vor. Oder
sagte sie sich das jetzt nur?
Es war ihr immer klar gewesen, dass er es nicht leicht haben würde,
er war so ungeschickt mit Menschen, ihren Highschool-Freunden. Keiner wusste,
was er mit ihm anfangen sollte. Er wusste selbst nicht, was er mit sich
anfangen sollte. Er kannte außer seiner Schwester niemanden, der war wie er.
Und die in seinem Alter hielten Großzügigkeit leicht für überheblich, da sie
annahmen, auch sie würde er mit dem unmöglichen Maßstab messen, den er an sich
selbst anlegte. Irgendwann, dachte sie, muss er aufgegeben haben.
Und sie merkte, wie sie wütend wurde, hauptsächlich auf sich, aber
auch auf ihre Kommilitoninnen. In ihrem zweiten Studienjahr, da hockten sie bei
Gretchen Mills im Zimmer, und irgendwer sagte, Bunny Sachs vielleicht, »Macht
ihr euch klar, Leute, das ist das Schwerste, was wir jemals schaffen werden.
Hier überhaupt reinzukommen ist praktisch das Schwerste, was es auf der
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