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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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hinteren Veranda sprach
ins Handy; im Haus nebenan ein Dutzend Leute oder so, eine Art Party, keiner
ahnte, dass Isaac fünfzig Meter weiter durch die Dunkelheit lief.
    Eine theoretische Frage: Mal angenommen, dass du zwischen dir und
ihnen wählen müsstest – diesen Leuten hier, völligen Fremden. Drück den roten
Knopf, wirf eine Atombombe ab. Das ist als Frage doch nicht brauchbar, dachte
er. Na schön, dann stell dir vor, sie müssten sie beantworten
– wenn sie zu wählen hätten, zwischen dir und sich? Das wäre kein Geheimnis,
und schon gar nicht jetzt. Fremdkörper zählen nicht. Ruft schnell die Polizei
an, dreißig Sekunden Angst, dann dürft ihr zu eurem Chardonnay zurück. Um euren
Labrador macht ihr euch mehr Sorgen. Na schön, Watson, jetzt weiter. Keine Rast
für deine müden Knochen.
    Auf einer Veranda fing ein Hund zu bellen an. Apropos – denkt wohl,
dass du ihm sein Trockenfutter klaust. Die Leute von der Party schauten durch
das Fenster in Isaacs Richtung, sahen ihn aber nicht. Während ihre Töle weiß,
dass du da bist – das angeblich so dumme Tier.
    Er ging weiter voran. Denk gar nicht über diese Leute nach, dein Tag
war so schon schlimm genug. Hast mit der Rute gespart und so den Baron
verzogen. Schien die einzige Option zu sein, vielleicht aber auch nicht – sechs
Dollar in der Tasche, und die Polizei hat dein Gesicht gesehen. Schauer überliefen
ihn. In dem Visier eines Gewehrs gelandet. Hätte dich erschießen können, dieser
Polizist. Wäre legal gewesen, ein Verbrecher auf der Flucht.Sein Mitleid
machte ihm den Abzug kurz zu schwer – du hast ihn wohl an seinen Sohn erinnert.
Glück gehabt, das erste Mal seit Jahren.
    In zwei Tagen hast du nichts zu essen mehr und auch kein Geld, falls
nichts passiert bis dahin. An den Straßenecken betteln geht nicht – denn dein
Steckbrief ist schon raus. Bestimmt haben sie deinen Rucksack und auch deinen
Namen. Ganz zu schweigen von den Konsequenzen aus dem Tod des Schweden.
Landesweiter Haftbefehl.
    Mach nur so weiter, irgendwann liegt deine Leiche im Gebüsch. Für
die nur noch ein Rätsel, für dich »bitte nicht«, dann ein geflüstertes »Tja,
tut mir leid, Kleiner«, und dann fühlst du das Leben aus dir rauslaufen.
Vielleicht nicht morgen, aber irgendwann schon. Tu nicht so, als wär es x, wenn
es in Wahrheit y ist. Du musst anfangen, die Dinge anders anzugehen.
    Er ging weiter, schaute sich im Dunkeln um. Keiner beobachtet dich,
nur du selbst. Vielleicht ist es ja ohnehin zu spät. Vielleicht hast du mit dem
Baron getauscht.
    ***
    Viel später stieß der Bach auf eine breite Lichtung, die für
eine Stromleitung geschlagen worden war. Sie lag da, hell und flach, und bei
dem Sternenlicht und schwachen Mondschein konnte er in beiden Richtungen weit
sehen, wo das Land sich vor ihm ausbreitete.
    Der Polarstern hinter dir – du gehst nach Süden. Setz dich einen
Moment hin. Er suchte sich im hohen Gras ein Plätzchen und entspannte sich, sah
in die Ferne, durch die lange Schneise für die Überlandleitung. Er schloss die
Augen, und die Nachbilder formierten sich schnell zu Gesichtern. Schlag sie
wieder auf und schau dich um. Da war nichts. Große Sache, dachte er, legte den
Kopf auf seine knochigen Knie. Er sah Männer vor sich, die an einem Feuer
saßen. Du bist müde, dachte er, sonst nichts.Doch die Gesichter wollten
nicht weichen, das war der Schwede mit den anderen, und da war noch etwas, ein
schwacher Umriss außerhalb des Lichts. Dann stand der Schwede da, im
Widerschein des Ofens voll beleuchtet, und er sagte, »muss schon abgezogen
sein«. Die letzten Worte. Kleine Entscheidungen – du bist durch die andere Tür
da reingangen, nicht so, wie du rausgingst. Dir war klar, dass du dieselbe Tür
nicht nehmen durftest.
    Und nur deshalb seid ihr noch am Leben, Poe und du, dank dieser
kleinen Entscheidung. Dein eigener Körper, der versuchte, dich am Atmen zu
halten – geh durch die andere Tür. Ein Urinstinkt. Alt wie die Schwerkraft.
Guck dir an, wie’s mit dem Schweden lief: kein Vorsatz, kein Gewehr, kein
Messer oder Schläger. Ein gefundenes Objekt. Natürlicher Teil von dir, untere
Abteilung. Eingebaut in alle, Mann Frau Kind, du sagst dir, dass du es nicht
brauchst, und siehst dich trotzdem um. Dein Freund kommt vor dem Fremden. Und
du selbst kommst vor dem Freund. Der höchste Einsatz, und du bist noch immer
da, der andere Kerl dagegen nicht.
    Und worum geht das Ganze dann? Er schöpfte tief Atem. Musst
weiterkommen. Er war

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