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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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nächster Gelegenheit.
    Ein Schauer überlief ihn, und der Schweiß brach aus, vorhin war ihm
noch warm gewesen, jetzt war er durchnässt und fror. Er sprang auf, tigerte in
seiner Zelle auf und ab, hieb gegen die Steinwände und die Gitterstäbe, alles
zwecklos, die Naturgesetze, gleich würde er schreien, so viel in ihm
aufgestaut, was raus musste. Bloß dass er’s nicht tun würde. Sondern es als
Mann durchstehen. Sich aufs Bett legen und sich im Kopf beruhigen. Das tat er.
Er war völlig nass, die Kopfhaut kribbelte, es fühlte sich an wie ein
Herzanfall, er würde hier auf seinem Bett verrecken. Nach ein paar Minuten war
der Schub vorbei, es blieb nur ein Gefühl der Schwäche und der Leere.
    Dabei gab es einen Ausweg. Er lag direkt vor ihm, starrte ihn an. Er
konnte die Wahrheit sagen, und das würde alles ändern,denn sein Anwalt
wollte auch nur, was sie alle von ihm wollten. Das war seine Aufgabe. Ihn hier
herauszuholen. Und sein Leben tatsächlich zu retten.
    Nur, das war gar keine Rettung, sondern eher ein Tausch. Mit Isaac
und Lee. Aber sein Leben. Gegen ein Versprechen, das er abgelegt hatte, und
gegen das, was ihm bewusst war: Es gab Gute, es gab Schlechte, Isaac war einer
von den wenigen Guten. Während er, Poe, von einem natürlichen Standpunkt
betrachtet, dort war, wo er sein sollte, ja, er gehörte hierhin, Isaac dagegen
nicht. Vielleicht nicht ganz genau an diesen Ort, vielleicht gehörte er nicht
ganz genau hierhin, aber Poe gab es zu, er war nicht überrascht, nicht richtig.
Beinahe hätte er im letzten Jahr hier seine Ferien verbracht, und seine Mutter
und Chief Harris hatten ihn da rausgeholt. Das war kein unfaires Geschick, er
war ja nicht als Flüchtling auf die Welt gekommen, sondern alles eine Folge
seiner eigenen Entscheidungen, er konnte sich dem stellen wie ein Mann. Die
Konsequenzen tragen.
    Trotzdem – wenn der Anwalt ihn nun fragte, was passiert war, würde
es ihm schwerfallen, den Vorfall nicht zu schildern, das wäre übermenschlich,
eher ein anderer Teil von ihm. Wenn jemand danach fragte, würde er’s erzählen.
Da hätte er keine andere Wahl. Doch wenn ihn keiner fragte, würde er’s auch
nicht erzählen. Wäre eine faire Chance, sie gäbe beiden Seiten das gleiche
Gewicht. Bloß dass er wusste, fragen würden sie ihn. Es war naheliegend: Wer
hatte den Mann in der Maschinenhalle umgebracht? Gott, es schien ewig her zu
sein, in grauer Vorzeit, ein Teil der Vergangenheit. Aber es war der Grund, warum
er hier war. Sie würden ihn danach fragen, und er würde es erzählen. Weil’s die
Wahrheit war, ganz einfach. Ja. Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
    Er war aufgesprungen, tigerte von neuem auf und ab, drei Schritte
bis zur hinteren Wand und wenden und zurückkommen. Vorm Mittagessen, hatte es
geheißen, käme dieser Anwalt, und sein Frühstück war inzwischen einige Zeit
her. Ja, dachte er, sobist du. Wenn es so etwas wie Pech gibt, findest du
es, nur war’s nie bloß Pech gewesen, immer hätte es auch viele Wege gegeben, es
zu vermeiden, und er hatte keinen davon eingeschlagen. Es war hoffnungslos, ein
hoffnungsloser Fall. Er hatte sich durchs Leben durchgeschlafen, hatte sich vom
Strom der Dinge tragen lassen. Hatte sich vom Strom der Dinge immer schneller
tragen lassen und es nicht bemerkt. Und war am Ende jetzt. Der große Absturz.
Es war nicht allein die Uni, es hatte auch andere Entscheidungen gegeben, die
ihn vor den anderen entblößten, Chancen, auf die sich die halbe Stadt gestürzt
hätte, doch Poe hatte sie nicht ergriffen. Als Orn Seidel ihn nach seinem
Schulabschluss gleich angerufen hatte, weil es eine Stelle gab bei einer Firma,
die für Deponien Plastikfolien herstellte. Mit Reisen kreuz und quer durchs
Land. Sie schlugen das Gelände ganz mit Plastik aus bei einer neuen Deponie,
als Vorbereitung für den Müll, der später dort hinkommen sollte, damit nichts
in nah gelegene Gewässer dringen konnte und so weiter. Und die alten Deponien
wurden so versiegelt, wie eine riesige Ziplock-Tüte, eine schwere
Plastikschicht kam auf den Müll, und dann bliesen sie sie mit Luft auf, um die
Folie zu testen, kurz bevor sie neue Erde drüberkippten, konnte man über die
hektargroßen Plastikflächen laufen, hüpfen, so wie ein Spaziergang auf dem
Mond, sagte Orn, vierzehn Dollar war der Einstiegslohn pro Stunde. Nur dass es
natürlich kein Spaziergang auf dem Mond war, es war Arbeit mit dem Müll der
anderen. Sie nannten sich selbst Techniker, obwohl sie das nicht

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