Rost
Flaschenhals und holte aus, am liebsten hätte sie sie
durchs geschlossene Fenster geschleudert, hätte laut geschrien und das ganze
Zimmer demoliert. Es war nur niemand da, der es gesehen oder sie gehört hätte.
Wenn niemand hört, welche Geräusche du machst, ist es eigentlich, als hättest
du sie nie gemacht.
Ich bin ein guter Mensch, sagte sie laut, ich habe immer alles
richtig gemacht. Sie gehörte zu denjenigen, die anderen zuliebe keine Mühen
scheuten. Und mit Billy, das war Notwehr gewesen, es konnte gar nicht anders
sein. Notwehr, sie hatte seinen Hals gesehen. Einer dieser Männer,
höchstwahrscheinlich derjenige, der gestorben war, hatte mit einem Messer ihrem
Sohn die Kehle durchzuschneiden versucht. Das war Notwehr, bloß das sagte
niemand. Billy musste ins Gefängnis und verlor für nichts sein Leben. Während
die, die ihn dorthin gebracht hatten …
Nun sag es, dachte sie. Sag, was du denkst. Sag, was du gerade
meinst. Sie ging ins Badezimmer und musterte sich im Spiegel, wusch sich Hände
und Gesicht. Ich bin ein guter Mensch, aber was da mit meinem Sohn geschieht,
das ist nicht fair. Und Bud kann diesen Mann finden. Es sollte zwischen einem
guten Menschen oder einer guten Mutter keinen Unterschied geben. Den gab es aber.
Es war nicht dasselbe. Bloß dass es sehr wohl dasselbe war. Eindeutig Notwehr,
es musste der Mann gewesen sein, der Obdachlose, dieser Niemand, hatte Harris –
oder Billy – ihr gesagt. Und die Devise war, auch wenn man so nicht denken
durfte, trotzdem, die Devise war: der andere Mann für Billy.
***
Sie nahm ein langes Bad, das Sandelholz-Schaumbad, das sie vor
einem Jahr von den Kolleginnen im Frauenhaus bekommen und bis heute aufgehoben
hatte. Was würden sie sagen? Doch sie allewürden es genauso machen, jede
Mutter würde das, da gab es keine andere Wahl. Sie rief Bud Harris an, und er
versprach, zu ihr zu kommen.
11 . Harris
Etwas stimmte nicht mit Grace, sie saß auf ihrer Couch, als
wäre sie verblüfft, ihn hier zu sehen, einen Augenblick lang überlegte er, ob
Virgil wieder da sei, doch sein Truck stand nicht vorm Haus. Dann dachte er,
nein, sie ist bloß betrunken.
»Hab dich gar nicht kommen hören«, sagte sie und klopfte auf die
Couch, neben sich.
»Schlechter Tag?«
Sie nickte.
»Kann ich was für dich tun?«
Kopfschütteln. »Ich hab mir halt gedacht, das war ein Zeichen, Billy
und so. Dass ich zwar getan hab, was ich konnte, aber …« Achselzucken.
»Das ist doch kein Zeichen. Es ist noch zu früh.«
»Du brauchst nicht mehr zu lügen.«
»Billy ist ein guter Junge«, sagte er. »Die Dinge werden ab jetzt
besser für ihn laufen.« Und als er das sagte, fühlte es sich nicht einmal wie
eine Lüge an, Billy ein guter Junge, es war nur etwas, das er sich wünschte.
»Danke«, sagte sie.
»Ich mein es ernst.«
Sie küssten sich ein bisschen, aber es blieb lustlos. Er erlebte
einen Augenblick der Panik, wollte sie am liebsten schütteln, ihm war, als
verlöre er sie wieder. Jetzt saßen sie beide auf der Couch und starrten in
verschiedene Richtungen, ein altes Ehepaar.
»Komm, gehen wir irgendwohin«, sagte er. »Ich lad dich in die Speers
Street ein.«
»Nein«, sagte sie. Sie hob die Hand und ließ sie hart auf seine fallen,
fast ein Schlag war das. Sie drückte sie.
»Es muss noch so vieles passieren.«
»Bud, ich weiß, was mit Billy passieren wird.«
Er setzte an, wollte ihr widersprechen, aber es war zwecklos, Billy
würde nicht gerettet werden, nein, er würde sie, Grace, mit sich runterziehen,
würde sie alle drei runterziehen. Plötzlich flammte in ihm Ärger auf, er
schlang die Arme um sich, so als wollte er ihn aus sich rauspressen. Die
Blicke, die sie Billy schenkte, hatten ihn schon immer eifersüchtig werden
lassen, es war ihm zwar peinlich, sich das einzugestehen, aber es stimmte, er
war auf ihn eifersüchtig. Ihm ging – schuldbewusst – jetzt ein Gedanke durch
den Kopf: Besser, wenn Billy umgekommen wäre – dann hätte sie weiterleben
können, hätte glauben können, was sie wollte. Aber es war nun mal so, dass er
gleichzeitig existierte und nicht existierte, er war da und wurde von ihr ferngehalten,
und so würde sie nie aufhören, an ihn zu denken. Billy war der Einzige, nach
dem sie schmachten konnte.
»Du hast Glück, dass du allein bist«, unterbrach sie seine Gedanken.
»Grace«, sagte er, »du Arme.«
»Ich mein’s ernst, es hat doch alles keinen Wert.«
»Komm, lass uns rausgehen. Wir könnten sogar in die
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