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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Stadt fahren.
Wir könnten wieder mal zu Vincent’s gehen, haben wir
seit Jahren nicht gemacht.«
    Sie beugte sich vor und rieb sich die Oberarme. »Ich will nur, dass
endlich meine Magenschmerzen aufhören.«
    »Hast du gegessen?«
    »Kann ich nicht.«
    »Das musst du aber.« Kopfschütteln.
    Harris massierte ihr die Schultern, strich dann mit den Fingern
sachte auf und ab, er schloss die Augen und betastete den Stoff der Bluse.
    »Ich weiß, dass ich Glück habe«, sagte sie. »Tut mir leid, dass ich
so ein Theater mache.«
    »Nein, komm her«, sagte er. Grace lehnte sich an ihn, legte ihm
den Kopf auf die Schulter, er schloss erneut die Augen.
    »Vielleicht möchte ich, dass wir jetzt miteinander schlafen«, sagte
sie. »Ich glaub, das könnte ich jetzt gut gebrauchen.«
    Eine Weile küssten sie sich, und es war verkrampft, er hätte beinahe
aufgehört, aber sie ließ ihn nicht. Es dauerte sehr lange, bis sie beide bereit
waren, und dann dauerte es noch mal so lange, bis sie fertig waren. Er fühlte
sich vollkommen erschöpft, und sie stand auf, ging in ihr Schlafzimmer und kam
im Bademantel wieder; er saß linkisch auf der Couch, immer noch nackt. Nach
einer Weile breitete er sich das Unterhemd über den Schoß.
    »Ich will ja nicht drauf rumreiten«, sagte er. »Aber du musst essen
– komm, versuch’s doch wenigstens mal.«
    »Ich will mich jetzt nur noch hinlegen.«
    »Na schön.«
    »Ich muss dir noch was geben, ehe ich’s vergesse.« Sie stand wieder
auf und kam mit einem Repetiergewehr zurück, in dem er Billys altes 30 – 30 er erkannte, sowie einer
alten einläufigen Flinte.
    »Ist wahrscheinlich besser, wenn du die hier an dich nimmst.«
    Er stand nackt auf und sah ihr in die Augen, aber da war nichts zu
sehen. Gleichgültig gab sie ihm beide Waffen, und er stellte sie in eine Ecke
bei der Tür.
    ***
    Nachdem sie eine Zeit im Bett gelegen hatten, schliefen sie
noch einmal miteinander, nicht mehr unbeholfen, eher gewohnheitsmäßig, doch
obwohl sie auf seine Berührung reagierte, war es nicht dasselbe, sie hatte sich
jetzt an einen Ort zurückgezogen, wo sie fast nicht mehr erreichbar war. Als
sie fertig waren, hielten sie sich an den Händen. Sie würde das niemals
überwinden. Er würde entscheiden müssen.
    Bloß dass die Entscheidung schon getroffen war. Wahrscheinlichgleich zu Anfang, als er Billys Jacke versteckt hatte. Nein, er würde Grace
nicht so zurücklassen. Er strich die Laken glatt, ihm war, als könnte er, wenn
er nur fest genug draufdrückte, seine eigene Haut aufreißen, so als wär sie
eine Trommel. Das hatte er sich ja auch schon angetan, es zuzulassen, dass die
dunklen Zeiten ihn einholten. Altbekannt, dieses Gefühl. Das letzte Mal, als es
geschah, war er auf einem Jagdausflug gewesen, in Wyoming, hatte sich verirrt
und zwei Nächte in einer Schneehöhle gesessen, ohne Essen, und die Schneedecke
über ihm wurde immer brüchiger. Da wusste er, er würde sterben, keine Frage,
und er hatte es verdient, war losgegangen trotz des aufziehenden Wetters, trotz
des Wissens, dass das schlecht ausgehen konnte, er war trotzdem da hineinmarschiert,
nachdem er schon den weiten Weg gemacht hatte, im Flieger nach Wyoming, wollte
er sich seinen großen Ausflug nicht verderben lassen.
    Und jetzt war’s nicht anders. Er war da hineinmarschiert. Und damals
hatte er am dritten Tag das Loch verlassen und sich auf den Weg gemacht, als
Höhlenforscher durch die Schneeberge, zu schwach, um sein Gewehr oder den
Rucksack mitzunehmen, und zehn Stunden später, in den letzten paar Minuten
Tageslicht, war er auf eine Straße gestoßen. Er hatte keiner Menschenseele je
erzählt, was da passiert war, weder Grace noch Ho noch seinem Arzt, er war in
ein Motelzimmer gegangen und am nächsten Tag zurückgeflogen. Und ein Stück von
ihm war dort geblieben, in der Wildnis. Das hier hat auch seinen Sinn, sagte er
sich. Das ist das Einzige, was du ihr geben kannst.
    Er wollte schon die Decke hochziehen, aber dann zwang er sich,
aufzustehen und rumzugehen, er stellte sich ans Fenster und wartete ab, was er
wohl sagen würde.
    »Komm ins Bett zurück.« Sie klopfte neben sich auf die Matratze.
    »Gleich.« Ein schwacher Lichtschein war draußen zu sehen, ein paar
Sterne, er suchte nach etwas, wusste aber nicht wonach.
    »Das wird schon wieder, es ist nur, dass es mich heute alles so getroffen
hat. Ich krieg das besser hin, versprochen. Komm doch einfach wieder.«
    Später in der Nacht schlug er die Augen auf und merkte,

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