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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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Berufung. Isaac English retten, darum ging es,
deshalb war er hier gelandet, es gab einen Plan, sein ganzes Leben hatte
hingeführt zu diesem Augenblick, er würde sich gewachsen zeigen.
    Er war hungrig, sollte mal was essen. Dann hörte er Schlüssel rasseln,
Schritte, da kam eindeutig ein Wärter, Treppe hoch und zu der Zellenreihe,
jetzt würde er abgeholt, in Schutzhaft, das würde ihn retten. Er lauschte dem
näherkommenden Rasseln der Schlüssel und empfand Erleichterung. Das wird mich
retten. Dann kam noch ein weiteres Gefühl dazu, Gefühl der Übelkeit, Gefühl
einer Veränderung, die ihn erfasste, und Gefühl vom Rest seines Lebens, der
sich lang vor ihm ausdehnte, es war Verzweiflung. Er würde verlieren – seine
eigenen Beine würden ihn im Stich lassen, sie würden ihn nicht so bald sterben
lassen, ganz egal, was er sich ausdachte, sein eigener Körper würde ihn
bezwingen. Er lag da.
    Aber der Wärter blieb gar nicht an seiner Zelle stehen. Er ging weiter.
Poe setzte sich auf. Der Wärter ging an ihm vorüber, unterwegs zu einer anderen
Zelle, wo er etwas abgab, dann drehte er um, vorbei an der gesamten Zellenreihe
und die Trepperunter, bis seine Schritte verhallten. Was bin ich doch für
ein Feigling, dachte er.
    Bevor er länger darüber nachdenken konnte, stand er auf und öffnete
die Zellentür, er würde schnell etwas zu Abend essen und sonst nichts, ein
schnelles Abendessen, seine Kraft erhalten, er ging zügig an der Zellenreihe
lang und auf die Hauptetage seines Zellenblocks, dann in den Hauptkorridor, wo
man die Kantine bereits riechen konnte, dann sah er die Tür und ging direkt
hinein.
    Und sofort hoben sich die Köpfe an den Tischen der Arischen Brüderschaft.
Clovis war da mit seinen jüngeren Lieutenants, Dwayne war da, er hielt den
Blick gesenkt und tat so, als ob er ihn nicht gesehen hätte, aber Clovis stand
schon auf, er grinste, als hätte er ihn die ganze Zeit erwartet, und Poe
zitterten die Knie, er zögerte, dann drehte er sich um und ging wieder hinaus
aus der Kantine. Vor ihm gab es nur die Rechtecke der Korridorfliesen, er zwang
die Beine, sich voranzubewegen, der Korridor war breit und leer, er wusste
nicht, wohin er ging. Sein Körper fühlte sich so leicht an, war er da an einem
anderen Häftling vorbeigekommen, er war sich nicht sicher, seine Bewegungen
schienen in Zeitlupe abzulaufen. Er bog ab in seinen Zellenblock, dann änderte
er seine Meinung, dort säße er in der Falle, er ging wieder in den Korridor und
bog dann ab zum Freiganghof. Es war sehr still. Er hörte keine Stimmen hinter
sich. Er kam zu den Metalldetektoren und zu den Türen. Keine Wärter weit und
breit. Er drückte gegen die Türen, sie waren abgeschlossen, und Poe rüttelte an
ihnen, doch sie blieben zu. Er trat dagegen, so fest er nur konnte. Keine
Chance.
    Als er sich umdrehte, waren sie hinter ihm, Clovis und mehrere der
Jüngeren. Clovis trug keine Mütze, und zum ersten Mal sah Poe, dass er ganz
dünne rote Haare hatte, die er sich nach vorne kämmte, und schon ziemlich kahl
war.
    Einer der Lieutenants hielt ein Messer in der Hand, mit langer
Klinge und einem Griff, der aus blauem Klebeband bestand. Poedrückte wieder
gegen die Türen zum Hof, schlug hart dagegen, aber es war zwecklos. Dann täuschte
er an, versuchte, an den fünf Männern vorbeizulaufen, aber einer von ihnen war
schneller und sprang Poe an, nur dass der sich nicht hinunterziehen lassen
wollte, sondern weiter rannte und den Mann mitzerrte, der sich an ihm
festklammerte, bis die anderen sie einholten. Sie boxten auf ihn ein, nur viel
schmerzhafter, dann verschwamm alles, und als er schließlich fiel, sah er sein
Blut am Boden, überall.

Sechstes Buch

1 . Grace
    Sie saß auf der Veranda, starrte übers Tal und sah dem Licht
dabei zu, wie es sich veränderte, sie spürte, wie die Sonne auf der Haut
brannte, aber sie rührte sich nicht aus dem Sessel weg. Sie hatte schon zwei
Tage lang nichts mehr gegessen. Drei Mal hatte sie beschlossen, reinzugehen,
Harris anzurufen, ihm zu sagen, dass er es nicht tun sollte, die Folgen würde
sie schon tragen. Drei Mal hatte sie sich Billy vorgestellt, wie er auf dem
Seziertisch lag oder in einer Schublade, wie sein Gesicht aussah. Sie war in
ihrem Sessel sitzengeblieben. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern,
als er sich in ihr bewegt hatte, nach Plan, um elf Uhr jede Nacht. Und seine
Tritte waren wie ein bärenstarker Herzschlag gewesen.
    Er hatte nicht herauskommen wollen. Sie hatte

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