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Rost

Titel: Rost Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Meyer
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führten über
eine große Wiese, und die Nacht war klar und schwarz, die Sterne reichten
runter bis zum Horizont. Milliarden davon gibt’s da draußen, rings um uns, ein
Ozean, und du bist mitten drin. Da hast du deinen Gott – Sternstaubpartikel. Wo
du herkommst, wo du wieder hingehst. Stern wird zu Erde wird zum Menschen wird
zu Gott. Und deine Mutter – wird zu Fluss undwird zu Meer. Zu Regen.
Jemandem, der tot ist, kannst du verzeihen. Ihm war, als liefe etwas aus ihm
raus, an seinem Kopf herab, über den Nacken und den restlichen Körper, als
häutete er sich.
    Südlich von Naomi traf er die Entscheidung, noch einmal zu übernachten.
Ein paar Kilometer übriglassen für den Vormittag. Er ging an eine flache Stelle
am Flussufer, wo er sich zum Nachdenken hinsetzte. Heimgehen kannst du nicht –
die würden dich nur davon abbringen wollen. Genau wie du es für sie tätest.
Besser abwarten.
    Der Alte hat’s versucht. Das hat er wirklich. Das muss man ihm lassen.
Morgen gehst du hin, zu Harris, und erzählst ihm, was du getan hast. Das ist
das Richtige.
    Dort auf der Erde sitzend, merkte er, dass die Verkrampfung langsam
von ihm abfiel, so als heilten seine Wunden. Vor zwei Wochen könnte noch der
Schwede hier an diesem Lagerplatz gesessen haben. Alte Feuerringe. Wäre nett,
ein Feuer jetzt. Nur keine Streichhölzer. Er schaute auf den Fluss hinaus, der
langsam durch die Bäume strömte. Zeit ins Bett zu gehen. Deine letzte Nacht in
Freiheit, schlaf dich aus.

3 . Henry English
    An dem Tag fuhren sie nach Pittsburgh, um sich mit dem Anwalt
zu besprechen, eine Großkanzlei ganz oben in dem alten Koppers Building bei der
Grant Street. Schon als Lee ihn in den Aufzug schob, begriff er, das hier würde
teuer werden. Der Gedanke, dass ihr neuer Mann seiner Familie mit Geld helfen
würde, war ihm unerträglich, doch es gab keine Alternative.
    Dieser Anwalt residierte in dem Eckbüro, er war ein Mann beinahe in
Henrys Alter, aber groß und dünn und fit, mit vollem grauem Haar,
wahrscheinlich Tennisspieler. Den hätten die meisten Frauen ab einem bestimmten
Alter sicher attraktiv gefunden. Henry konnte ihn auf Anhieb nicht ausstehen,
aber als er einen Seitenblick auf Lee warf, merkte er, sie fühlte sich ganz
wohl. So waren ihre Leute jetzt. Vor lauter Nervosität wurde ihm ein bisschen
übel, vielleicht lag’s auch nur an dem Büro, vielleicht am Wissen, was sie
hergebracht hatte, oder an allem. Er rutschte im Rollstuhl hin und her.
    »Sie haben es bequem so, Mr. English?«
    »Mir geht’s gut. Ich bin inzwischen dran gewöhnt.«
    Sie setzten sich, der Mann ging alle Honorare und Gebühren durch
sowie den Katalog der Grundrechte des Anwaltsklienten, dessen Hauptpunkt
offenbar darin bestand, dass sie mit promptem Rückruf rechnen durften. Darauf
nickte Lee und griff zu ihrem Scheckbuch. Henry sah, dass obenan ihr Name neben
dem von Simon stand. Nur dass es immer noch sein Nachname war. Das war
tröstlich. Lauter Dinge, nach denen er sie noch nie gefragt hatte.
    Der Anwalt, Peter Brown, fragte sie freundlich aus nach Isaacs
Hintergrund, wo sie wohnten, welchen Beruf Henry ausgeübthatte, sogar, wie
es zu seinem Unfall kam. Er fragte nach Isaacs Mutter, Henry hätte protestiert,
doch Lee erzählte dem Mann alles. Sie erzählte ihm zu viel. Dann sagte Lee ihm
noch, was Billy Poe gesagt hatte, dass Isaac den Mann in der Fabrik getötet
hätte. Peter Brown legte den Stift kurz ab und holte ein kleines Diktiergerät
aus seinem Schreibtisch.
    »Vielleicht sollten wir das nicht aufnehmen«, sagte Henry.
    »Das beweist zwar Ihren Instinkt, Mr. English, aber diese Aufnahme
dient lediglich unseren Zwecken, nicht denen des Staates. Da müssten die schon
hier einbrechen.« Der Mann hatte eine so leise Stimme, dass man stillsitzen
musste, um ihn auch zu verstehen. Henry schaute wieder Lee an.
    »Können Sie sich noch erinnern, was er ganz genau gesagt hat?«,
fragte Peter Brown.
    »Ich kann’s versuchen«, sagte Lee.
    »Mein Sohn hat diesen Mann nicht umgebracht. Es bringt nichts, eine
Aufnahme zu machen.«
    »Dad.«
    »Ihr Sohn war dort, als dieser Mann gestorben ist. Wenn wir das jetzt
nicht zugeben, dann werden wir es vor Gericht tun müssen. Das ist auch der
einzige Grund, warum wir es tun.«
    »Bloß dass kein Wort dazu von Billy Poe zu hören ist. Hätte er was
gesagt, dann stünde mein Sohn längst schon unter Anklage.«
    »Bislang hat Billy Poe noch nicht mal seinen Anwalt getroffen, doch
sobald das geschieht, wird sich

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