Rot und Schwarz
etwas zu ärgern vermocht, so ärgerten sie sich fortan über gar nichts mehr. Selten verriet sich ein offenbarer Mangel an Rücksicht, aber Julian hatte bei Tisch schon zwei oder drei kurze Gespräche zwischen dem Marquis und seiner Frau mit angehört, die für den oder jenen Tischgenossen peinlich waren. Dieses adelsstolze Ehepaar machte kein Hehl aus seiner aufrichtigen Mißachtung gegen jedermann, dessen Vorfahren nicht bereits zum höchsten Hofadel gehört hatten. Julian machte die Wahrnehmung, daß das Wort »Kreuzzug« das einzige war, was den Ausdruck tiefen Ernstes und echter Hochachtung auf ihre Gesichter lockte. Die gewöhnliche Achtung hatte immer einen Anflug von Herablassung.
Im Bannkreis all dieser Pracht und Langenweile hatte Julian eigentlich nur für Herrn von La Mole Interesse. Mit Vergnügen vernahm er gelegentlich, wie sich der Marquis dagegen verwahrte, irgend etwas zur Beförderung des armen Le Bourguignon getan zu haben. Das war in der Tat nur eine Aufmerksamkeit gegen die Marquise gewesen. Julian wußte die Wahrheit durch den Abbé Pirard.
Es war eines Morgens in der Bibliothek, während der Abbé mit Julian an dem ewigen Prozeß Frilair arbeitete, da fragte Julian plötzlich: »Herr Abbé, ist es eine meiner Pflichten, täglich an der Tafelrunde der Frau Marquise teilzunehmen, oder ist es eine Gnade, die man mir vergönnt?«
»Es ist eine außerordentliche Ehre«, erwiderte der Abbé betroffen. »Herr N***, der Akademiker, der Frau von La Mole seit fünfzehn Jahren treu den Hof macht, hat sie seinem Neffen, Herrn Tanbeau, nicht verschaffen können.«
»Herr Abbé«, für mich ist es die peinlichste Obliegenheit meines Amtes. Im Seminar habe ich mich weniger gelangweilt. Ich sehe alles gähnen, selbst Fräulein von La Mole, die doch an die Liebenswürdigkeit der Hausfreunde gewöhnt sein muß. Ich fürchte immer einzuschlafen. Bitte, erwirken Sie mir doch die Erlaubnis, in irgendeiner obskuren Herberge für zwei Franken essen zu dürfen.«
Der Abbé war als echter Emporkömmling sehr empfänglich für die Ehre, am Tische eines hohen Herrn sitzen zu dürfen. Er bemühte sich lebhaft, dieses Gefühl auch auf Julian zu übertragen, als sich plötzlich ein leichtes Geräusch hinter ihnen vernehmbar machte. Julian drehte sich um und erblickte Fräulein von La Mole, die offenbar gehorcht hatte. Er wurde rot. Sie war gekommen, um ein Buch zu holen, und hatte alles mit angehört. Julian gewann in ihren Augen. »Er ist nicht auf den Knien geboren«, dachte sie, »wie der alte Abbé«. Gott, wie häßlich der ist!«
Bei Tisch wagte Julian kaum, Fräulein von La Mole anzusehen, aber sie geruhte, ihn anzureden. An diesem Tage erwartete man viele Gäste. Sie forderte ihn auf, zu bleiben. Die jungen Pariserinnen lieben Herren eines gewissen Alters durchaus nicht, besonders wenn sie unsorgfältig gekleidet sind. Julian brauchte keinen großen Scharfsinn aufzuwenden, um zu merken, daß die Genossen des Herrn Le Bourguignon, die im Salon zurückgeblieben waren, die Ehre hatten, Fräulein Mathildens Witzen zur Zielscheibe zu dienen. An diesem Abend war sie aus irgendeiner Laune besonders spöttisch gegen die langweilige Gilde.
Fräulein von La Mole war der Mittelpunkt eines kleinen Kreises, der sich fast allabendlich hinter dem mächtigen Lehnstuhl der Marquise bildete. Dort fanden sich ein: der Marquis von Croisenois, der Graf Caylus, der Vicomte de Luz und zwei bis drei andre junge Offiziere und Freunde Norberts oder seiner Schwester. Die Herren saßen allesamt auf einem langen blauen Sofa 30 . An dem einen Ende davon saß Julian schweigsam auf einem kleinen niedrigen Stuhl mit Strohgeflecht. Ihm gegenüber, ebenfalls auf einem Stuhl, thronte die strahlende Mathilde. Um dieses bescheidene Plätzchen wurde Julian von all den Schmeichlern des Hauses beneidet. Norbert hielt den jungen Sekretär seines Vaters in unauffälliger Weise dort fest, indem er hin und wieder das Wort an ihn richtete oder ein- oder zweimal seinen Namen nannte. Im Laufe des Abends erkundigte sich Fräulein von La Mole bei Julian, wie hoch der Berg sei, auf dem die Zitadelle von Besançon liegt. Julian konnte nicht sagen, ob der Berg höher sei als der Montmartre oder nicht, öfters lachte er von ganzem Herzen über das, was man in der kleinen Gruppe plauderte; aber er fühlte sich unfähig ähnlicher eigener Einfälle. Das war ihm wie eine fremde Sprache, die er wohl verstand, aber nicht selber sprechen konnte.
An diesem Tage
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