Rot und Schwarz
Prüderie ging er sogar so weit, Neid darin zu erblicken, worin er sich sicherlich täuschte.
»Graf Norbert«, dachte er, »den ich beobachtet habe, wie er eine Meldung von zwanzig Zeilen an seinen Oberst dreimal aufgesetzt hat, der könnte froh sein, wenn er in seinem Leben eine einzige Seite so geschrieben hätte wie Sainclair.«
Da keiner auf ihn in seiner Bedeutungslosigkeit achtete, konnte sich Julian einer Gruppe nach der andern nähern. Er blieb in der Nähe des Barons von Stock und wollte ihn sprechen hören. Der geistreiche Mann hatte eine nervöse Miene, und Julian sah ihn erst ruhiger werden, als er vier oder fünf anzügliche Redensarten gemacht hatte. Es schien Julian, als ob diese Art Geist viel Raum beanspruche. Es war dem Baron unmöglich, in Aphorismen zu sprechen. Er brauchte immer ein paar sechszeilige Sätze, um etwas Glänzendes zu sagen.
»Dieser Mensch doziert. Er plaudert nicht«, sagte jemand hinter ihm. Er drehte sich um und errötete vor Freude, als er den Namen des Grafen Chalvet hörte. Das war der klügste Mann seiner Zeit. Julian hatte seinen Namen mehrfach im Memorial von Sankt Helena und in den von Napoleon dem Ersten diktierten Dokumenten gefunden. Graf Chalvet äußerte sich in knappster Form. Seine Worte waren Blitze, grell, wuchtig und gründlich. Wovon er auch sprach, die Unterhaltung kam sofort in Fluß. Er brachte sie auf Tatsachen. Es war ein Vergnügen, ihm zuzuhören. In politischen Dingen war er übrigens der frechste Zyniker.
»Ich bin unabhängig«, sagte er zu einem dreifach dekorierten Herrn, über den er sich offenbar lustig machte. »Warum soll ich heute derselben Meinung sein wie vor sechs Wochen? Dann wäre ich ja der Sklave meiner Meinung!«
Vier ernste junge Leute, die ihn umstanden, zogen dumme Gesichter. Sie liebten die Ironie nicht. Der Graf sah, daß er zu weit gegangen war. Zum Glück bemerkte er Herrn Balland, einen Biedermann und Tartüffe. Er begann sich mit ihm zu unterhalten. Andre traten näher. Man ahnte, daß der arme Balland erledigt werden sollte. Balland hatte aus lauter Moral und Moralität, obgleich er abstoßend häßlich war, nach seinem ersten unerzählbaren Auftreten in der Gesellschaft eine schwerreiche Frau geheiratet, und als diese gestorben, abermals eine schwerreiche Frau, die aber nicht gesellschaftsfähig war. Jetzt erfreute er sich in aller Demut eines Einkommens von sechzigtausend Franken und hatte sogar seine eignen Schmarotzer. Graf Chalvet machte auf dies alles erbarmungslose Anspielungen, und bald hatte sich ein Kreis von etwa dreißig Personen um die beiden gebildet. Jedermann lächelte, selbst die ernsten jungen Herren, die Hoffnung des Jahrhunderts.
»Warum kommt er in dieses Haus, wo er doch offenbar nur zum Gespött dient?« dachte Julian. Er gesellte sich zum Abbé Pirard, um sich danach zu erkundigen.
Balland verschwand.
»Bravo!« sagte Norbert. »Einer von meines Vaters Spionen ist fort! Nur der kleine lahme Napier ist noch da!«
»Ist das des Rätsels Lösung?« dachte Julian. »Aber wenn dem so ist, warum empfängt ihn der Marquis?«
Der gestrenge Abbé Pirard stand mürrisch in einer Ecke des Saales und hörte zu, wen die Lakaien anmeldeten.
»Die wahre Räuberhöhle!« brummte er. »Ich sehe nur verrufene Leute kommen!«
Der gestrenge Abbé hatte keine Ahnung, aus welchen Elementen sich die gute Gesellschaft zusammensetzt. Aber durch seine Freunde, die Jansenisten, war er aufmerksam gemacht worden auf etliche Typen des Gesindels, das nur durch die große Geschicklichkeit, mit der es allen Parteien dient, oder durch übel erworbenen Reichtum in die Salons eingedrungen ist. Eine Weile antwortete er Julian auf seine eifrigen Fragen mit übervollem Herzen. Dann hielt er plötzlich inne, trostlos, daß er von jedermann immer nur Böses sagen mußte; er rechnete sich das als Sünde an. Für den galligen Jansenisten, der an die Pflicht der christlichen Nächstenliebe glaubte, war das Leben in der großen Welt ein steter Kampf. – »Was dieser Abbé Pirard für ein Gesicht zieht!« sagte Fräulein von La Mole, als Julian wieder an das Sofa trat.
Er fühlte sich gereizt. Gleichwohl hatte sie recht. Der Pfarrer Pirard war ohne Zweifel der ehrlichste Mann in diesem Salon, aber sein Kupfergesicht sah in diesem Augenblick, wo es von Gewissensskrupeln verzerrt wurde, wirklich abschreckend aus. »Glaube noch einer an Physiognomien!« dachte Julian. »In diesem Moment zeiht sich der Abbé in seinem Zartgefühl einer
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