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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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führten Mathildens Freunde einen fortwährenden Krieg gegen die Leute, die im großen Saale auftauchten. Die Freunde des Hauses kamen zunächst daran, da man sie am besten kannte. Julian war begreiflicherweise ganz Auge und Ohr. Alles das interessierte ihn, sowohl die Opfer der Spöttereien wie die Art, sich zu mokieren.
    »Ah, da ist Herr Descoulis!« sagte Mathilde. »Er hat auf die Perücke verzichtet. Wahrscheinlich will er es durch Genialität zum Präsidenten bringen. Der kahle Schädel soll die hohen Gedanken, die angeblich darin sind, anzeigen!«
    »Der Mensch kennt alle Welt«, warf der Marquis von Croisenois ein. »Er verkehrt auch bei meinem Onkel, dem Kardinal. Er ist imstande, bei jedem seiner Freunde – und er hat deren zwei- bis dreihundert – jahrelang eine andre Maske zu tragen. Er versteht, sich Freundschaften im Schwung zu halten. Das ist sein Talent. Wie Sie ihn da sehen, hat er schon um sieben Uhr morgens vor der Tür eines seiner Freunde im Schmutz gestanden, und wir haben Winter. Er entzweit sich von Zeit zu Zeit und schreibt dann ein halbes Dutzend Streitbriefe. Dann versöhnt er sich wieder und schreibt abermals ein halbes Dutzend Briefe, diesmal voller Freundschaftsbeteuerungen. Sein Haupttrick aber ist der Herzenserguß des freimütigen Biedermannes, der nichts bei sich behalten kann. Dieses Manöver kommt zur Anwendung, wenn er jemanden um einen Dienst bitten will. Einer der Großvikare meines Onkels ist unübertrefflich in der Schilderung des Lebenslaufes dieses Herrn Descoulis seit der Restauration. Ich muß ihn einmal mitbringen.«
    »Du mein Gott, ich glaube nicht an solche Klatscherei! Das ist Brotneid zwischen kleinen Leuten«, behauptete Graf Caylus.
    »Herr Descoulis wird dermaleinst eine geschichtliche Größe sein«, fügte Croisenois hinzu. »Er hat zusammen mit dem Abbé de Pradt und den Herren von Talleyrand und Pozzo di Borgo die Restauration inszeniert.«
    »Der Mann hat Millionen in den Händen gehabt«, sagte Norbert, »und ich begreife nicht, warum er hierherkommt, um die zuweilen abscheulichen Bemerkungen meines Vaters einzustecken. ›Wie oft haben Sie Ihre Freunde verraten, lieber Descoulis?‹ hat er ihm neulich über den ganzen Tisch zugerufen.«
    »War er denn wirklich ein Verräter?« fragte Fräulein von La Mole. »Ach, wer wäre kein Verräter!«
    »Was sehe ich da?« sagte Graf Caylus zu Norbert. »Bei Ihnen verkehrt Sainclair, der berüchtigte Liberale? Zum Teufel, was tut der hier? Ich muß mich an ihn heranmachen, mit ihm reden, ihn zum Sprechen bringen. Man sagt, er wäre ein Genie ...«
    »Ich bin nur neugierig, wie ihn deine Mutter empfangen wird«, sagte der Marquis von Croisenois zu Norbert. »Er hat so überspannte, hochherzige, selbständige Ideen ...«
    »Aufgepaßt!« unterbrach ihn Fräulein von La Mole. »Dort beugt sich der selbständige Herr von Descoulis bis zur Erde und drückt ihm die Hand. Es sieht beinahe aus, als wolle er sie küssen.«
    »Offenbar ist der Descoulis oben besser angeschrieben, als wir glauben«, meinte Croisenois.
    »Sainclair kommt hierher, weil er Akademiker werden will«, behauptete Norbert. »Sehen Sie nur, Croisenois, wie er vor dem Baron L*** katzbuckelt!«
    »Es wäre doch viel bequemer, wenn er gleich vor ihm niederkniete«, scherzte Herr von Luz.
    »Mein lieber Sorel«, bemerkte Norbert zu Julian, »Sie sind ein gescheiter Kerl, aber Sie kommen aus den Bergen. Verfallen Sie nie darauf, jemanden so zu grüßen, wie es der große Dichter da tut, und wäre es der liebe Gott höchstselbst.«
    »Ah, da kommt ein Phänomen von Geist und Witz: Herr Baron von Stock«, höhnte Fräulein von La Mole, wobei sie die Stimme des anmeldenden Lakaien ein wenig nachahmte.
    »Ich glaube, selbst die Diener machen sich über ihn lustig. Was ist das auch für ein Name: Baron von Stock!« spöttelte Herr von Caylus.
    »Was tut der Name? hat er uns neulich erklärt«, fuhr Mathilde fort. »Stellen Sie sich vor, wie der Herzog von Bouillon zum ersten Male gemeldet wurde! Die Welt gewöhnt sich an alles!«
    Julian verließ den Kreis des blauen Sofas. Er hatte noch zu wenig Sinn für die entzückenden Feinheiten einer mokanten Unterhaltung, um sich über derartige Spöttereien amüsieren zu können. Er verlangte, daß ein Scherz seinen vernünftigen Kern habe. Aus dem Geplauder dieser jungen Leute hörte er nichts heraus als die Absicht, alles in den Staub zu ziehen. Das empörte ihn. In seiner provinzlerhaften, gleichsam englischen

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