Rot und Schwarz
dieser Schmarotzer, von denen die aristokratischen Salons wimmelten, gesagt, daß sie sich nicht allen gegenüber in gleicher Weise benahmen. Mancher, der sich vom Marquis alles gefallen ließ, zeigte die Zähne, wenn ihn die Marquise schlecht behandelte. Im Charakter der Familie La Mole lag allzuviel Hochmut und Mißlaune. Man war es allzu gewohnt, andern weh zu tun, um sich zu zerstreuen. So konnten sie nie auf echte Freundschaft rechnen. Höflich aber waren sie allezeit, ausgenommen an Regentagen und in Augenblicken völliger Verstimmung, was selten der Fall war. Ohne den Schwarm der Schmarotzer wäre die Marquise vereinsamt gewesen. Damen von hohem Range empfinden die Einsamkeit als etwas Schreckliches. Sie kommen sich dann wie in Ungnade gefallen vor.
Der Marquis tat für seine Frau alles. So sorgte er auch dafür, daß ihr Salon stets genügend besucht war, wenn auch nicht immer von Pairs, denn er fand manche seiner neuerlichen Kollegen nicht vornehm genug, um sie als Hausfreunde, und nicht unterhaltend genug, um sie als untergeordnete Gäste bei sich zu sehen.
Julian kam erst spät hinter alle diese Geheimnisse. Die Politik, die den Hauptgesprächsstoff in bürgerlichen Familien bildet, kommt in Häusern vom Range des La Moleschen nur in Augenblicken der Not zur Geltung.
Obgleich man im Jahrhundert der Lebensunlust weilte, war die Vergnügungssucht so stark, daß selbst an den Dinertagen alles augenblicklich aufbrach, sobald der Marquis den Salon verließ. In der Unterhaltung bei Tisch galt es, keine Scherze zu machen, die Gott und die Geistlichkeit berührten, oder den König, oder Leute von Rang und Einfluß, oder die am Hofe beliebten Künstler, überhaupt irgend etwas Anerkanntes. Es war unstatthaft, Beranger und die Oppositionsblätter, Voltaire und Rousseau zu erwähnen. Man durfte niemandem, der sich in der Öffentlichkeit eine freiere Sprache herausnahm, Gutes nachsagen. Unbedingt unschicklich war es, von Politik zu sprechen. Sonst konnte man über alles frei reden. Weder hunderttausend Taler Einkommen noch das blaue Ordensband vermochten etwas gegen die Salongesetze. Der geringste lebendige Gedanke wurde als grobe Unmanierlichkeit aufgefaßt. Trotz des guten Tons, der ausgesuchten Höflichkeit und des Wunsches, sich angenehm zu machen, gähnte die Langeweile auf allen Gesichtern. Die jungen Leute, die pflichtmäßig erschienen, schwiegen nach einigen gezierten Redensarten über Rossini oder das Wetter still, denn sie fürchteten, bei weiterem Sprechen einen verpönten Gedanken oder verbotene Lektüre zu verraten.
Es fiel Julian auf, daß die Tischunterhaltung gewöhnlich von zwei Vicomtes und fünf Baronen aufrechterhalten wurde, die der Marquis in der Emigrationszeit kennengelernt hatte. Diese Herren hatten ein Einkommen von höchstens achttausend Franken. Vier von ihnen hielten zur
Quotidienne
und drei zur
Gazette de France
. Einer brachte täglich ein paar Anekdoten aus dem Königlichen Schlosse mit, in denen die Bezeichnung großartig tausendmal vorkam. Julian bemerkte, daß er fünf Orden hatte, während die andern durchschnittlich nur drei besaßen.
Im Vorzimmer sah man zehn Lakaien in Livree. Den ganzen Abend über wurde alle Viertelstunden Eis und Tee herumgereicht. Gegen Mitternacht setzte man sich zu einem kleinen Souper mit Champagner.
Aus diesem Grunde hielt Julian manchmal bis zuletzt aus. Im übrigen begriff er kaum, wie man der üblichen Unterhaltung in diesem so prächtig vergoldeten Saale ernstlich Gehör schenken konnte. Zuweilen beobachtete er die Sprecher, um sich zu vergewissern, ob sie sich nicht über ihre eigenen Worte lustig machten. »Mein Maistre, den ich auswendig weiß, hat das hundertmal besser ausgedrückt«, dachte er, »und der ist doch schon reichlich langweilig!«
Julian war nicht der einzige, der diese geistige Öde bemerkte. Die einen setzten sich darüber hinweg, indem sie viel Eis aßen, die andern, indem sie sich schon im voraus darauf freuten, hinterher renommieren zu können: »Ich komme eben aus dem Hause La Mole, wo ich gehört habe, daß Rußland usw....«
Julian erfuhr von einem der Schmarotzer, daß Frau von La Mole vor noch nicht sechs Monaten die mehr als zwanzigjährige Ausdauer eines Getreuen belohnt hatte. Sie hatte nämlich dem armen Baron Le Bourguignon, der seit der Restauration Unterpräfekt war, zur Beförderung zum Präfekten verholfen.
Dieses große Ereignis hatte den Eifer aller andern neu belebt. Hatten sie sich vorher kaum über
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