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Rot und Schwarz

Titel: Rot und Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stendhal
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könne.
    Julian hatte einen sonderbaren Gedanken. »Macht er sich vielleicht über mich lustig?« dachte er. Er ging zum Abbé Pirard, um sich Rats zu holen. Aber dieser war weniger höflich als der Marquis. Er pfiff vor sich hin und sprach von andern Dingen. Am nächsten Morgen erschien Julian vor dem Marquis wieder im schwarzen Anzug mit seiner Briefmappe. Er wurde in gewohnter Weise empfangen. Am Abend, als er im blauen Rocke kam, war der Ton völlig anders und ganz genauso freundlich wie am Abend zuvor.
    »Da Sie sich bei den Besuchen nicht zu sehr langweilen, die Sie so gütig sind, einem armen kranken Greise zu machen, sollten Sie ihm nun auch alle die kleinen Ereignisse Ihres Lebens berichten, aber ehrlich und ohne einen andern Hintergedanken als den, klar und amüsant erzählen zu wollen. Denn man muß sich amüsieren«, setzte der Marquis hinzu. »Das ist die Quintessenz des Lebens. Es kann mir nicht alle Tage einer im Gefecht das Leben retten oder eine Million schenken, aber wenn ich Rivarol hier neben meinem Lehnstuhl hätte, so würde er mir täglich eine Stunde Schmerz und Langeweile vertreiben. Ich habe ihn einst sehr gut gekannt. Das war in Hamburg während der Emigrationszeit.«
    Sodann erzählte der Marquis Rivarols Anekdote von den Hamburgern, die sich zu viert zusammentaten, um einen Witz zu verstehen.
    Herr von La Mole wollte den kleinen Abbé, auf dessen Gesellschaft er angewiesen war, etwas aufmuntern. Er stachelte Julians Ehrgeiz an. Da die Wahrheit von ihm verlangt wurde, entschloß sich Julian, alles zu sagen und nur zweierlei zu verschweigen: seine leidenschaftliche Bewunderung für Napoleon Bonaparte, den der Marquis nicht leiden konnte, und seinen vollkommenen Unglauben, der einem künftigen Pfarrer nicht gut stand. Sein kleiner Ehrenhandel mit dem Chevalier von Beauvaisis kam ihm sehr zustatten. Der Marquis lachte bis zu Tränen über die Szene im Café in der Rue Saint-Honoré, mit dem Kutscher, der Julian mit schmutzigen Schimpfworten überhäuft hatte. Das war eine Zeit der vollkommensten Freimütigkeit in den Beziehungen zwischen Vorgesetztem und Untergebenem.
    Herr von La Mole begann sich für Julians eigenartigen Charakter zu interessieren. Anfangs leistete er dem Lächerlichen an ihm Vorschub, um sich darüber zu ergötzen; doch bald fand er mehr Gefallen daran, die mangelhaften Manieren des jungen Mannes behutsam zu verbessern. »Im allgemeinen bewundern Provinzler, die nach Paris kommen, alles«, dachte der Marquis. »Der hier haßt alles. Die andern sind zu sehr geziert. Er ist es zu wenig. Dumme halten ihn für dumm.«
    Der Gichtanfall zog sich infolge des strengen Winters in die Länge und dauerte fast drei Monate.
    »Man hängt sein Herz an einen schönen Schäferhund«, sagte sich der Marquis. »Warum schäme ich mich so, daß ich eine Vorliebe für den kleinen Abbé habe? Er ist ein Original. Ich behandle ihn wie einen Sohn. Gut! Was ist da weiter dabei? Wenn meine Laune von Dauer ist, kostet sie mich höchstens ein Legat von zehntausend Franken in meinem Testament.«
    Als der Marquis den festen Charakter seines Schützlings einmal erkannt hatte, betraute er ihn täglich mit einem neuen Auftrage. Julian bemerkte mit Schrecken, daß es dem großen Herrn passierte, ihm manchmal widersprechende Weisungen über ein und denselben Gegenstand zu geben. Das konnte ihn ernstlich kompromittieren. Fortan arbeitete er mit ihm nie ohne ein Briefbuch, in dem er die Entscheidungen vermerkte und vom Marquis unterschreiben ließ. Auch hatte er sich einen Schreiber genommen, der die Entscheidungen über jede Angelegenheit in ein besondres Buch abschrieb, in das auch die Abschrift aller Briefe eingetragen wurde.
    Diese Neuerungen erschienen dem Marquis zunächst im höchsten Grade langweilig und lächerlich. Aber in kaum acht Wochen verspürte er ihre guten Seiten. Julian schlug ihm vor, einen Beamten aus einem Bankgeschäft anzunehmen, der über alle Einnahmen und Ausgaben aus den Gütern, die Julian zu verwalten hatte, doppelt Buch führen sollte. Diese Maßnahme klärte den Marquis über den Stand seiner eigenen Angelegenheiten derart auf, daß er sich das Vergnügen machen konnte, zwei oder drei neue Spekulationen zu unternehmen, ohne dabei einen Vermittler nötig zu haben, der ihn nur betrog.
    »Nehmen Sie dreitausend Franken für sich«, sagte er eines Tages zu seinem jungen Sekretär.
    »Exzellenz, man könnte mich verdächtigen!«
    »Was soll das heißen?« fragte der Marquis

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